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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Begrüßungskuss auf die Wange. Als er noch klein war, hat er immer daran geleckt, weil er ihre Gesichtscreme so gern mochte. Am liebsten die mit Mandelgeschmack. Oder Orangenblüten?
    Sie fährt mit den Fingern durch sein dichtes Haar. Sie liebt diesen rötlichen Ton, aber er besteht darauf, dass es braun ist: Rothaarige, sagt er, sind triebhaft und unzuverlässig.
    Â»Was denn, mein Lieber?«
    Alexander zieht ein paar Blätter Papier aus der Tasche, faltet sie auf und legt sie vor ihr auf den Schreibtisch.
    Â»Da, Grandmaman, lies.«
    Ihre Augen sind in all den Jahren gewissenhafter Pflichterfüllung schwach geworden. Die Brille genügt jetzt nicht mehr; sie braucht ihr Vergrößerungsglas, um eine so feine Handschrift lesen zu können.
    Alexander setzt sich auf den Stuhl neben ihr. Er riecht nach Schnupftabak, nach Pferden und feuchtem Leder. All dem zum Trotz, was sie über den guten Einfluss seines neuen Freundes gehört hat, war er offenbar wieder in Gatschina.
    Â 
    Für meine Schwester.
    Zu ihrer Unterhaltung bei diesem bedeutenden Ereignis.
    Eine Königin der Herzen
    Drama in einem Akt
    Â 
    Sie blickt auf, bevor sie weiterliest. Er hat die Finger der linken Hand gespreizt und tut so, als musterte er seinen goldenen Siegelring. Seine Rechte ist zu einer Faust verkrampft.
    Â 
    [Gesang einer jungen Frau aus der Kulisse:]
    Ach, süßes Herz,
    wie kannst du mich so grausam quälen,
    zu heftig ist dein Sehnen …
    Â 
    [Ein junger Mann in Reitkleidung tritt auf. Er lauscht.]
    Man sagt, zu einer guten Stimme gehört ein hässliches Gesicht. Schön sein und schön singen können nur die Engel.
    Â 
    Alexander sieht sie nicht an. Aus Verlegenheit oder weil er so aufgeregt ist? Alexandrine war immer schon seine Lieblingsschwester. Zu der Zeit, als er sich in den Kopf gesetzt hatte, auf einer einsamen Insel zu leben, war sie der einzige Mensch, den er einlud, mit ihm zu kommen. »Aber du bist dann weit weg von Maman und Papa. Und von Grandmaman. Und von deinem Hund. Willst du trotzdem mitkommen?« »Ja«, antwortete Alexandrine, ohne zu zögern, »ich will.«
    Â 
    [Ein vornehm gekleideter älterer Mann tritt auf. Die Frauenstimme verstummt. Der Mann reibt sich die Hände und murmelt:]
    Meine geliebte Drina! Ich muss ihr sagen, was ich für sie empfinde.
    Â 
    Sie liest weiter. Es ist ein kurzes Stück, mehr ein Dramolett als ein Drama. Alexander kennt ihren Geschmack. Der reiche Verehrer wird abgewiesen, die junge Leidenschaft triumphiert. In der Schlussszene tritt die Braut strahlend schön und glücklich auf die Bühne, umgeben von einem Chor jubelnder Gratulanten.
    Â»Ausgezeichnet«, sagt sie. Das feine Lächeln in seinem Gesicht wird strahlend, er blüht auf vor freudiger Erleichterung. »Willst du es aufführen, Alexander? Anlässlich der Hochzeit? Du kannst es selbst inszenieren, wenn du willst. Du hast ja Übung darin. Im Eremitage-Theater.«
    Â»Ich weiß nicht«, sagt er zögernd.
    Aber es reizt ihn, sie sieht es ihm an. Er stellt sich vor, wie die Schauspielerin aussehen muss, die er für die Rolle der Geliebten aussuchen wird, jungfräulich rein und von süßer Schönheit, und wie ihre Lippen seinen Text sprechen.
    Â»Was für einen Eindruck hast du von Alexandrine?«, fragt sie.
    Â»Angespannt. Glücklich. Ängstlich. Dann wieder glücklich.
Konstantin macht sich einen Spaß daraus, sie aufzuziehen. Wenn sie mit ihrem Hund spielt, rümpft er die Nase und sagt, sie soll Acht geben, dass sie nicht auch nach Hund riecht.«
    Â»Der gemeine Kerl.«
    Â»Den König nennt er immer ihren Erwählten. Und wenn sie widerspricht und sagt, dass der König schon mit der Prinzessin von Mecklenburg verlobt ist, dann fragt er: Und warum ist er dann hier? Und warum wirst du rot?«
    Alexanders Lachen bringt ihre Erinnerung an tausend heitere Szenen der Vergangenheit zum Klingen. »Ich werde dich beschützen, Grandmaman«, hat er ihr erklärt, als er noch nicht fünf war. Und dann hat er mit großer Geste mit seinem Holzschwert auf die Posten der Palastwache gezeigt und gesagt: »Die da kannst du jetzt alle wegschicken.«
    Ihr Bein tut weh. Rogerson verordnet immer wieder neue Zugpflaster, die schädliche Säfte aus dem Körper herausziehen sollen. Das verborgene Übel muss ans Licht, sagt er. Ihre Haut ist schon ganz wund, überall offene

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