Die Zarin der Nacht
auch gelbe Früchte prangen. Zitronen, so haben die Gärtner ihr erklärt, zeichnen sich durch die seltene Eigenschaft aus, dass sie gleichzeitig Blüten und Früchte tragen können.
Der Georgssaal ist so nahe, dass man die Musik der Pfauenuhr hört. Die Uhr ist ein Geschenk von Grischenka und übt eine ungeheure Faszination auf alle Enkel der Kaiserin aus. Alexandrine erzählt oft davon, wie sie, als sie noch kleiner war, mit ihren Brüdern in den Saal schlich, um Eule, Pfau, Hähnchen und Krähe ihre kleinen Tanzfiguren vollführen zu sehen. Konstantin gefiel das Hähnchen am besten, was ihn nicht hinderte, seinen Finger in dessen Schnabel zu stecken und so den Mechanismus kaputtzumachen.
»Ich mochte die Eule am liebsten.« Alexandrine bietet eine recht gute Imitation des Automaten, indem sie ruckartig den Kopf bewegt und mit den Händen flattert. Sie lacht. »Obwohl das arme Tier in einem Käfig eingesperrt ist.«
Alexander fand den Pfau am schönsten, weil er so groà war. »Und«, sagt Alexandrine, wobei sie mit einer anmutigen Geste der rechten Hand einen Halbkreis in die Luft zeichnet, »weil er sich so groÃartig verneigte und ein Rad schlug. WeiÃt du, Grandmaman, es ist eine verrückte Idee, aber damals stellten wir uns vor, wir könnten uns winzig klein machen und mit diesen Tieren leben.«
Sie spricht zu schnell und vergisst, wie wichtig eine deutliche Artikulation ist. Sie hat noch so viel zu lernen.
Der ganze Hof, versichert Anjetschka, ist freudig gestimmt und voller Entzücken. Man hört immer wieder, die GroÃfürstin verdiene alles Glück, das auf Erden zu haben ist. Nur schade, dass sie so weit fort muss. Man wird das liebe Kind sehr vermissen. Die Dienstboten überlegen schon, wer von ihnen sie wohl begleiten wird. Wird sie eine russische Schneiderin mit nach Schweden nehmen? Jemanden, der russische Marmelade zu machen versteht? Einen Patissier? Einen Chocolatier?
Sie unterbricht Alexandrine in ihrem Geplauder. »WeiÃt du noch«, sagt sie und macht ihr ein Zeichen, auf dem Sofa neben ihr Platz zu nehmen, »wie ich dir immer diese Porträts gezeigt habe und dich eines wählen lieÃ? Und du hast dich jedes Mal für das von Gustav Adolf entschieden.«
»Ja, Grandmaman.«
Alexandrine setzt sich. Ihre Munterkeit ist plötzlich verflogen, sie wirkt befangen und verlegen. Ihr Kleid aus rosa Satin ist mit glatten weiÃen Bändern verziert. Der einzige Schmuck, den sie trägt, ist eine Perlenkette. Ganz fein ist ein Geruch von versengtem Haar wahrnehmbar. Koslow sollte vorsichtiger mit der Brennschere sein.
Es war ein Spiel, mit dem die beiden sich oft unterhielten: Die GroÃmutter zeigte ihrer ältesten Enkelin Porträts, die von fremden Höfen geschickt worden waren, Bilder von Männern, die als Heiratskandidaten in Frage kamen, und dazu die Begleitbriefe, in denen aufgezählt wurde, welche Vorteile eine EheschlieÃung mit sich brächte, je nachdem, wie groà das Herrschaftsgebiet des Bewerbers war, mit welchen Mächten er verbündet oder verfeindet war, wie vornehm sein Geschlecht und wie weit verzweigt seine verwandtschaftlichen Beziehungen waren. »Welcher gefällt dir am besten?«, fragte sie, und die kleine pausbäckige Alexandrine zeigte immer etwas verlegen auf den schwedischen Thronfolger.
»Du wirst ihn bald leibhaftig kennenlernen«, sagt die Kaiserin jetzt. »Freust du dich, dass er gekommen ist?«
Die Augen ihrer Enkelin suchen Halt bei dem Achteckmuster des anatolischen Teppichs, der vor dem Sofa liegt. »Ja, Grandmaman, nur â¦Â«
»Nur was, mein Schatz?«
Ungemütliches, beklommenes Schweigen. Alexandrine ringt mit sich selbst, sie weiÃ, dass es jetzt, nachdem sie ihren Einwand angekündigt hat, zu spät ist, ihn zu verbergen. Woher ihre Enkel das nur haben, fragt sich die Kaiserin, diese furchtsame Neigung, sich zu unterwerfen? Sogar Alexander ist so, auch wenn er sich bemüht, es seine GroÃmutter nicht merken zu lassen, weil er spürt, wie sehr es ihr missfällt. Er, der schon als Baby nie in Watte gepackt worden ist. Dem man beigebracht hat, sich im Dunkeln nicht zu fürchten, dessen Forscherdrang keine Grenzen gesetzt wurden, dessen Fragen nie belächelt, sondern immer geduldig beantwortet wurden.
»Ist der König nicht ⦠ist er nicht bereits verlobt?«
»Aber das Entscheidende ist
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