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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Sie kann nicht umhin, mit leichtem Bedauern zuzugeben, dass selbst Alexander und Konstantin, ihre beiden strammen Enkel, neben ihm blass aussehen, wenn auch nur ein klein wenig.
    Der preußische Gesandte, in schwarzem Samt, nähert sich, um ihr seine Reverenz zu erweisen und – zweifellos – um einzuschätzen, wie sie inzwischen zu dem Teilungsvertrag steht, was sie allerdings nicht zulassen wird: Die Preußen verlangen immer mehr als ihren Anteil. Aber sie muss gar nichts sagen, denn er ergeht sich nur in einem Loblied auf den Charme ihrer Enkelin. »Großfürstin Alexandrine gelingt es«, sagt er, »angesichts einer solchen Verdichtung von Schönheit zu glänzen.«
    Neben ihr sitzt Platon, stumm, seine Finger spielen mit dem Band über seiner Brust. Die makellos geformte Stirn trägt eine
tiefe Falte. Le Noiraud ist pikiert, weil der preußische Gesandte ihn als Mon Prince angesprochen hat, eine Kränkung, die er niemals weder vergeben noch vergessen wird. Fürst Subow verdient laut Ansicht des preußischen Gesandten offenbar nicht die Anrede Mon Seigneur oder Votre Altesse, da sein Adelstitel zu neu ist.
    Am anderen Ende des Ballsaals steht ihr Sohn und hält Maulaffen feil. Er ist umgeben von einem Vakuum, das wie ein Zauberkreis wirkt, den niemand außer seiner Frau und seinen Kindern zu betreten wagt. Ihr Blick gleitet rasch über seine schlaffe Gestalt, den kleinen Kopf, der aussieht, als würde er ihm von den Schultern kippen, sobald er eine zu schnelle Bewegung macht.
    Mit Paul hat schon immer irgendetwas nicht gestimmt. Als Junge war er niemals still, stets den anderen voraus. Rannte schon zum Tisch, wenn das Essen noch nicht serviert war. Aß zu schnell, war fertig, wenn die anderen kaum begonnen hatten, und beklagte sich dann, dass sie so langsam seien. Redete ununterbrochen. Machte auch dann noch Einwände, wenn die Sache sich längst erledigt hatte. Dickköpfig. Wollte die Dinge nur auf seine Weise oder gar nicht. »Ungeduld ist eine allgemeine Schwäche sehr großer Jugend. Seine Hoheit wird da herauswachsen«, hatte sein Erzieher ihr versichert, aber sie wusste es besser. Ungeduld war wie Kopfkrebs. Er würde wachsen und alles vergiften, was er berührte.
    Sie muss bei ihm an einen Kuckuck denken. Nicht an das wiederholte Echo seines Rufs, das angeblich voraussagt, wie viele Jahre man noch auf Erden verbringen wird, sondern daran, dass der Vogel seine Eier in fremde Nester legt. Daran, dass das Kuckucksjunge größer wird als seine übertölpelten Eltern und immer noch weiter gefüttert werden will. Nicht dass sie dem Gerücht Glauben schenkt, dieses Kind, das sie geboren hat, sei gegen ein anderes ausgetauscht worden und Paul sei Elisabeth Petrowas Bastard. Einfachere Erklärungen reichen da aus. Das
überheizte Säuglingszimmer, die sorglosen, unbedarften Kindermädchen, die den Kopf ihres Sohns mit Unsinn vollstopften. Geschichten von den Bogatyri , die durchs Gebirge tobten und den Räuber Nachtigall erschlugen, von schlauen Bauern, die verschlagene Kaufleute überlisteten und die Prinzessinnen Zarentöchter heirateten. Oder auch die Geschichte, sie, seine Mutter, könne sich unsichtbar machen und deshalb alles wissen, was er sagt.
    Die Kindermädchen müssen sich nichts bei diesen Neckereien gedacht haben; es waren harmlose Scherze ohne Bedeutung, Stoff aus deren eigener Kindheit. Nur war ihr Sohn kein stämmiger Bauernjunge, der über solchen Unsinn lachen konnte. Ihr Sohn schrie beim Anblick seiner Mutter vor Entsetzen.
    Paul erwidert ihren Blick, wird sich ihr aber nicht mehr nähern. Sie haben ihre übliche Begrüßung schon absolviert. Lieber Sohn. Geliebte Mutter. Kein Bedürfnis nach mehr. Sie wird sich nicht das kribbelnde Vergnügen verderben, das von ihr Besitz ergriffen hat. Sie wird den jungen Leuten beim Tanzen zuschauen. Schlanke, umherhüpfende Körper, die zu solcher Anstrengung noch fähig sind. Alexander, hoch erhobenen Hauptes, absolut selbstsicher in seinen Tanzschritten. Neben ihm Elisabeth, das glänzende Haar mit schwarzen Perlen geschmückt. Anna Fjodorowna, völlig zufrieden, wie sie da über den Ballsaalboden springt, an den Fingerspitzen von Konstantin geführt.
    Fächer flattern wie Schmetterlingsflügel. Röcke rascheln und schwingen. Füße treten auf der Stelle. Der Duft von Orangen- und Jasminblüten mischt sich

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