Die Zarin der Nacht
stibitzt und dass völlig intakte Spitze angeblich in der Wäsche beschädigt worden ist und dann in der Stadt verkauft wird.
Die Konfessionen des Königs beschäftigen sich vorerst mit der Zeit seiner ersten Begegnung mit ihr, die jetzt einundvierzig Jahre zurückliegt. Er ein polnischer Graf, der Sankt Petersburg besucht, sie eine GroÃfürstin mit ungewisser Zukunft. Sophie nennt er sie ⦠ihr glänzendes schwarzes Haar ⦠ihre Lippen, die um einen Kuss betteln ⦠das war meine Liebste, die Gebieterin meines Schicksals ⦠der ich mich ganz hingab ⦠indem ich ihr schenkte, was niemand anders besessen hat â¦
Er weiÃ, dass sie diese Worte liest. Woran soll sie sich seiner Meinung nach erinnern? An alte Versprechungen? Alte Träume?
Sie hat keine Geduld mit Träumern.
Als das Beil der Guillotine fiel und die Pariser Rinnsteine
vom Blut der Mächtigen überflossen, träumte Robespierre von einer Tugendrepublik. Von freien Menschen, die in den StraÃen wandeln, friedfertig und voller Weisheit. Von Mädchen in geblümten Kleidern mit Blumenkränzen im Haar, die durch die weiÃen Marmorkolonnaden schweben. Alle Sünden ausgelöscht, die Welt ohne Eifersucht, Heuchelei und Aberglaube.
Träumer sind nicht ungefährlich. Sie hinterlassen eine Spur des Leidens.
Sie überfliegt die Liste der Ausgaben des Königs: Lebensmittel, Löhne, Kerzen, Weinkeller, Naschwerk und Kaffee, Brennmaterial und Stallkosten. Als Repnin vorschlug, das »Taschengeld« des Königs zu verdoppeln, war sie einverstanden. In dem beigefügten Wirtschaftsbuch sieht sie Stanislaws Unterschrift, mit der er den Empfang von dreitausend Dukaten im Monat bestätigt: Stanislaw August Rex.
Ich bin groÃzügig gewesen, denkt sie.
Er unterzeichnete seine Abdankung. Sie hat ihn nicht gezwungen. Es war eine einfache Wahlentscheidung. Weiter an Symbolen und groÃen Gesten kleben und bankrott gehen. Oder sich ergeben, die eigenen Schulden werden bezahlt, und die Familie kann weiter ein angenehmes Leben führen. Aber ihre GroÃzügigkeit hat nicht gereicht, denn Stanislaw überschwemmt sie mit Gesuchen. Kann der beschlagnahmte Grundbesitz von Sowieso freigegeben werden? Konfisziertes Land zurückerstattet werden? Ihre neuesten russischen Untertanen klammern sich an die Ãberzeugung, ihr einstiger König habe immer noch Einfluss in Sankt Petersburg. Und er, Träumer, der er immer gewesen ist, glaubt das ebenfalls.
Ich habe dich zum König gemacht, antwortet sie ihm im Geiste, und was hast du getan? Lässt dich herumkommandieren von jedem, der mit dem Fuà aufstampft und dich anbrüllt! Hast zugelassen, dass dein Volk vom revolutionären Fieber gepackt wird! Hast mit den Osmanen und mit Frankreich Ränke gegen mich geschmiedet.
Mit wachsender Ungeduld sieht sie das Bündel Papiere durch. Das Lästige und das Banale vernebeln, was wichtig sein könnte.
Zum Beispiel: Jeden Morgen um sechs bringt der Kammerdiener des Königs ihm eine Tasse fette Bouillon. Sie wird täglich frisch hergestellt, der Koch schlieÃt die Küchentür ab, wenn er sie zubereitet.
Hat der König Angst, er könnte vergiftet werden?
Jeden Tag reitet Stanislaw aus. Lososna ist sein Lieblingsziel. Dort angekommen, steigt er jedes Mal ab und geht über die Brücke der Memel ans andere Ufer.
Aus welchem Grund?
Wieso werden diese Fragen erst dann gestellt, wenn sie selbst darauf hinweist? Wie oft muss sie denn noch betonen, wie entscheidend es ist, wachsam zu sein? Ist Besborodko der Einzige, dem sie voll und ganz vertrauen kann?
Sie nimmt einen leeren Bogen Papier, taucht ihre Feder ein und verlangt in ihrer Antwort an Repnin nach einer Untersuchung. Nicht zu offensichtlich oder brutal. Keine direkten Fragen. Beobachten und Schlüsse ziehen.
Und dann fügt sie hinzu: Nach seinem Abdankungsakt ist Stanislaw August ein ehemaliger König. Wir wünschen, dass diese Tatsache sich in der gesamten zukünftigen Korrespondenz niederschlägt.
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»Fürst Repnin tut sein Möglichstes, Majestät«, erwidert Alexander Andrejewitsch, als sie ihm bei der morgendlichen Lagebesprechung ihren Ãrger mitteilt. »Auf die ihm eigene vorsichtige Weise.«
Sie versteht es als das, was es ist. Als Erinnerung daran, dass ein vollkommener Höfling niemandem seine Gefühle verrät. Also sieht sie davon ab, noch ein
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