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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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ihrer Naturaliensammlung stapeln sich alte gepresste Pflanzen, Schachteln mit Muscheln und Fossilien. Steine aus dem gefrorenen Boden Sibiriens. Verdrehte Wurzeln, die wie menschliche Glieder aussehen.
    Längst vergessene Leidenschaften, denkt sie, als sie zusieht, wie ihr Enkel in ihren alten Schätzen wühlt. Keine nichtssagenden Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern der Beleg dafür, dass sie gelebt und geliebt hat. Dass sie, wo ihr etwas auffiel, stehen blieb und hinschaute. Deshalb hat sie auch alles behalten. Als Beweismittel.
    Sie hat sich in ihrem Bibliothekssessel am Fenster niedergelassen. Ihr schlimmes Bein ruht auf dem samtenen Fußschemel. Es tut wieder weh, manchmal sogar heftiger als vor Beginn der Wasserbehandlung. »Du warst wieder in Gatschina«, sagt sie.
    Alexander, der sich gerade über eine offene Schublade beugt, hält kurz inne, eher er sich zu ihr umdreht. Es war keine Frage, deshalb ist auch keine Antwort nötig, und deshalb schweigt er.
    Â»Geht es deinen Eltern so gut, wie es scheint?«, fährt sie fort.
»Ich hatte beim Taurischen Ball kaum Gelegenheit, mit ihnen zu plaudern.«
    Â»Ziemlich gut«, erwidert Alexander und richtet sich auf. »Maman ist allerdings vollkommen erschöpft, weil sie viel zu oft nach dem Baby schaut.«
    Er hat die Schublade nicht zugemacht.
    Sie bedeutet ihrem Enkel, sich neben sie zu setzen. Alexander nimmt Platz und kneift sofort die Augen zusammen, da er direkt im Schein der untergehenden Sonne sitzt. Weil er zu wenig schläft, sind seine Augen blutunterlaufen. Als sie sagt, er solle den Stuhl doch rechts neben sie stellen, findet er, das sei zu viel Aufhebens. In wenigen Minuten sei die Sonne verschwunden. Sie werde ihn nicht lange stören.
    Sie lässt ihn von seinem kleinen Brüderchen erzählen, dem jüngsten Zuwachs der Familie, dessen Erziehung Katharina schon plant, auch wenn seine Chancen auf den Thron – bei zwei älteren Brüdern – eher mager sind. Der große Nikolaus, sagt Alexander. Immer hungrig, saugt seine Ammen förmlich aus. Schreit aber nie ohne Grund.
    Â»Ich habe gehört, dass die Bäume vorne im Hof von Gatschina verschwunden sind«, sagt sie, als er eine Pause macht.
    Â»Wirklich?«, sagt Alexander und blinzelt ehrlich erstaunt.
    Wie kann man denn nicht merken, dass eine Baumallee verschwunden ist? Und zwar nicht wegen Krankheiten gefällt, sondern damit diese lächerlichen Gatschina-Regimenter mehr Platz für ihre endlosen Paraden haben. Streng geführt, »ohne Lotterwirtschaft, Trägheit und Nachsicht«, wie ihr Sohn gern sagt und damit andeutet, dass sie selbst genauso handelt. In Pauls Welt triumphieren Uniformen, Hackenknallen, klirrende Degen und Sporen über alte, schattenspendende Bäume.
    Â»Alle weg, höre ich. Auch die Eichen. Aber lass uns nicht darüber reden«, fährt sie fort. »Ich wollte dich nach diesem armen Hauptmann Uspenski fragen. Sein Vater hat bei Platon erneut eine Petition eingereicht.«
    Bei der Erwähnung von Le Noiraud zuckt Alexander kaum merklich zusammen. Sie können einander nicht leiden, diese beiden, was nicht überrascht, denn Alexander hat keinen ihrer Liebhaber gemocht. Aber wenn sie auf alle Anfälle kindlicher Eifersucht Rücksicht nehmen würde, wäre sie vollkommen paralysiert. Und vollkommen allein.
    Â»Aber Papa hat Hauptmann Uspenski doch schon begnadigt!« Alexander schenkt ihr ein triumphierendes Lächeln, froh, dass er ihr berichten kann, was geschehen ist. Hauptmann Uspenski wurde vorgeladen, und Alexander durfte ihn persönlich befragen. »So lange, wie ich wünschte, Grandmaman«, betont Alexander. »Ohne dass jemand dabei war.« Der Hauptmann habe zugegeben, dass er in der Pflege seiner Uniform und seiner Haare nachlässig gewesen sei. Habe gebeten, ihm zu verzeihen, dass er seinen Kommandanten enttäuscht habe. »Es ging nicht nur um die Länge seines Zopfs«, fügt ihr Enkel hastig hinzu, da er schon ihren Spott ahnt. »Und es war auch nicht sein erstes Vergehen.«
    Â»Ich bin sehr erfreut, dass du die Angelegenheit so schnell erledigt hast«, sagt sie und beschließt, Alexander nicht darauf hinzuweisen, dass der unglückliche Hauptmann womöglich vorher instruiert worden sei, was er dem eifrigen jungen Großfürsten zu sagen hätte.
    Â»Aber ich habe doch gar nichts getan«, protestiert Alexander.

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