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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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wach
senden Spielschulden, der Angst hat, dass sie ihn entlässt und in sein düsteres schottisches Moor zurückschickt. Wie lästig, diese menschlichen Eitelkeiten. Wie vorhersehbar.
    Auch ihre Hand tut weh. Nicht, wenn sie schreibt, aber sobald sie die Feder vom Papier hebt. Der Schmerz taucht im Laufe eines Tages in den merkwürdigsten Momenten auf. Wenn sie eine Schnupftabaksdose öffnet oder etwas hochhält, auch etwas ganz Leichtes wie einen Fächer, zum Beispiel, mit dem sie ein Gähnen zu verbergen sucht.
    Ihr Körper gibt auf. Zerschlissen im Dienst am Reich. Vierunddreißig Jahre fordern ihren Tribut.
    Das Alter kommt stets überraschend. Liegt es daran, dass es die einzige Lebensphase ist, aus der es keinen Ausgang, kein Zurück gibt? Niemand kann aus einigem Abstand auf sein eigenes Altsein zurückblicken.
    Alter macht nicht weise, pflegt sie zu bemerken, es macht nur alte Männer und alte Frauen, die nicht wissen, wohin sie gehen werden. Deshalb möchte sie sich mit jungen Menschen umgeben. Überschäumend, geschmeidig, formbar. Die Zukunft der menschlichen Gattung. In deren Herzen es noch Farbe gibt.
    Â 
    Kurz bevor die Dämmerung hereinbricht, sieht sie durchs Fenster der Eremitage, wie eine gut gekleidete Frau in Begleitung eines Mädchens mit grauer Haube über die Moikabrücke geht. Das Mädchen sagt etwas, die Frau – vielleicht ihre Mutter – schüttelt den Kopf und hebt verärgert die Hand. Darauf hält das Mädchen sich die Ohren zu. Wurde sie wegen eines unbedeutenden Vergehens getadelt?
    Etwas später, als sie wieder hinschaut, haben die beiden sich offenbar versöhnt und wandern Arm in Arm fort, das Mädchen neigt sich dabei ihrer Mutter zu; anscheinend lauscht sie einer Geschichte.
    Warwara Nikolajewna?
    Darja?
    Sie findet die Absurdität der Vorstellung amüsant. Die Frau, die sich da jetzt entfernt, ist viel zu jung und auch viel anmutiger, als Warwara jemals war. Und das Mädchen humpelt leicht beim Gehen, was ebenfalls nicht passt.
    Und dennoch …
    Die Erinnerung, die sich jetzt einstellt, betrifft den scharfen, bösen Augenblick von Warwaras Fortgang. Ein Missverständnis. Eine ungerechtfertigte Anschuldigung. Große Erwartungen: Stets wird mehr erwartet, als gewährt werden kann. Schuldzuweisungen, die wuchern wie der schwarze Pilz auf ihren Rosen.
    Wie Candide würde ich gern meinen Garten bestellen.
    Die Grenze zwischen Freundschaft und Verrat ist dünn. Das hat mit Verklärung und Erwartungen zu tun.
    Du bist nicht die Einzige gewesen, sagt sie im Stillen zu Warwara. Aber du warst die Erste, die mich verlassen hat. Die ablehnte, was ihr großzügig und aus Dankbarkeit angeboten wurde. Aus Gründen, die du nie zu erklären versucht hast.
    *
    Auf diesen Moment hat sie sich gut vorbereitet.
    Das Amt des Zaren, wird sie Alexander erklären, mag oft wie eine Last erscheinen. Aber in den richtigen Händen ist Macht das einzige Mittel, mit dem sich der Fortschritt der Menschheit bewirken lässt. Das Glück der größtmöglichen Anzahl.
    In den richtigen Händen, wird sie wiederholen.
    Man muss das schon erreichte Gute sichern.
    Manchmal muss ein Sohn über seinen Vater hinwegsteigen.
    Â 
    Â»Dies ist mein wahres Königreich«, erklärt sie Alexander und zeigt auf die Bücher in ihrer Bibliothek.
    Reihen von Werken, nach Themen, Autoren und Sprachen geordnet. Die Bände der Diderot-Sammlung mit ihrer kunstvol
len Schrift auf weichem braunem Kalbsleder stechen hervor. Sie selbst hat immer eine schlichte Lederbindung bevorzugt. Nicht zu viel Goldprägung, keine edelsteinbesetzten Ecken, denn es ist der Inhalt, der zählt, nicht der Einband.
    Erst kürzlich fand sie zwischen den abgegriffenen Seiten ihres Montesquieu einen alten Brief in Kinderschrift: Uns geht es gut. Dir geht es hoffentlich auch gut. Ich küsse deine Hände und Füße und deinen kleinen Finger. Dein kleiner Enkelsohn Alexander.
    Â»Darf ich die Medaillen sehen, Grandmaman?«, fragt Alexander so eifrig wie in alten Kindertagen, zieht die flachen Schubladen eine nach der anderen heraus und stößt bei jeder neuen Entdeckung einen kleinen Schrei aus. »Oh, an die erinnere ich mich noch«, sagt er und hält die vom Sieg bei Çeşme ans Licht.
    Sie hat ihr Leben lang Dinge gesammelt. Gemälde, Porzellan, Gemmen, Bücher, Porzellanfigurinen. Auf den Regalen

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