Die Zarin der Nacht
niemals anerkennen. Für ihn ist und bleibt Lambro-Cazzoni ein ignoranter Quacksalber.
»In Griechenland«, fährt Rogerson fort, »ist jeder ein Arzt.«
Er rät ihr, mit den Meerwasserbädern aufzuhören, und zwar auf der Stelle, bevor sie ernsthaften Schaden anrichten können. Er rät ihr, wieder zu der Kur mit Zugpflastern und Einläufen zurückzukehren, die den Körper von den angesammelten Giften reinigen.
»Nein«, sagt sie und bedeckt ihr wundes Bein mit ihrem Unterrock, bevor er es verbinden kann.
Rogerson bedenkt sie mit einem verletzten Blick. Du bist die Kaiserin, sagen seine Augen. Tu, was du willst. Er packt seine Instrumente in die Ledertasche, legt jedes sehr sorgfältig an seinen Platz.
Sie möchte nicht, dass Rogerson im Zorn geht. Er ist seit fast zwanzig Jahren ihr Leibarzt. Die Geheimnisse ihres Körpers sind ein offenes Buch für ihn. Ausfluss, Schwellungen, Ekzeme und Liebesbisse. Bis jetzt war er diskret. Er wacht nach bestem Vermögen über sie. Immerhin ist sie noch am Leben.
»Wieso kann Gift mein Bein anschwellen lassen?«, fragt sie. »Würde Gift nicht zuerst meinen Magen angreifen?«
Das Bedürfnis des Arztes, sie zu belehren, ist gröÃer als seine Eifersucht und sein verwundeter Stolz.
»Wenn der Magen und die Gedärme durch Gift gereizt werden, teilen sie das dem integumentalen System mit, wozu vor allem die Haut gehört. Und dann entsteht eine Entzündung. Es ist so, wie wenn ein Auge sich am anderen ansteckt.«
Er nimmt ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche und zeichnet ein System miteinander verbundener GefäÃe. Wenn Wasser in eines gegossen wird, füllen sich alle. Genau das passiere
in ihrem Körper. Kein Teil sei wirklich vollkommen in sich abschlossen. Alles hänge mit allem zusammen.
Sie lässt ihn reden, bis seine Stimme nichts Gereiztes mehr hat, und verspricht erst dann, seine Empfehlungen zu überdenken.
Er verlässt mit einer tiefen Verbeugung den Raum.
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»Nichts, was ich nicht schon vorher wusste«, sagt sie zu ihrem Minister, als sie ihm von ihrem Gespräch mit Alexander berichtet. Es dauert lange, bis man abgehärtet ist, denkt sie. Eine glückliche Kindheit hat auch ihre Schattenseiten. Wenn einem niemals die Hölle heià gemacht wird.
»Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Madame«, sagt Besborodko mit einem raschen, verstohlenen Kopfschütteln. Er reicht ihr ein Blatt Papier. Der Fettfleck, wo sein Daumen war, ist eine Hinterlassenschaft von Panis Leckerbissen.
Es handelt sich um einen an ihren Enkel adressierten Brief. Kurz, ohne Schnörkel oder blumige Vorreden. Darin wird Alexander versichert, die Annahme des Throns über den Kopf seines Vaters hinweg sei nicht nur weise, sondern unvermeidlich. Du wirst unser geliebtes Land retten, heiÃt es da. Du wirst das dir bestimmte Schicksal erfüllen und den tief empfundenen Segen deiner Mutter empfangen.
Schlau!
Sie begreift Besborodkos Plan sofort. Der Brief einer liebenden Mutter an ihren Sohn! Etwas gefühlig vielleicht, aber genau das, was Alexander beschwichtigen, sein Gewissen beruhigen wird. Ein Brief, der die Bitterkeit dessen, was er â der junge Prinz â so töricht für Verrat hält, in SüÃe verkehrt.
Besborodko ist nicht Grischenka. Das kann niemand sein. Aber er kommt ihm doch ziemlich nahe.
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Sobald der Graf gegangen ist, nimmt sie einen sauberen Bogen von dem Stapel, den Anjetschka ihr an den üblichen Platz ge
legt hat, bevor sie in ihre wohlverdiente Ruhepause verschwunden ist, und entwirft eine Strategie.
1.
Als Allererstes werde ich morgen nach Maria Fjodorowna schicken. Sie bitten, allein zu kommen, denn ich brauche ihren Rat.
2.
Ich werde sie von ihrem Baby plappern lassen. Ich werde sie nicht unterbrechen.
3.
Ich werde ihr erzählen, dass die Schweden sich nach ihrem chinesischen Pavillon erkundigt haben, von dem sie in Stockholm hörten. Werde ihr sagen, wie viel Freude Gustav Adolf an den Gärten in Gatschina haben wird. Dann werde ich fragen, ob sie in letzter Zeit wieder Schmucksteine geschnitten hat, denn ich hätte einen groÃen Bedarf an besonderen, persönlichen Geschenken der kaiserlichen Familie.
4.
Ich werde ihr zu Alexandrines Auftreten gratulieren. Ihr sagen, dass ich sehr angetan bin von der Art, wie sie ihre Tochter erzogen hat. Wir werden über die Einzelheiten der Reise nach Stockholm
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