Die Zarin der Nacht
»Papa hatte den Mann schon begnadigt, bevor ich ihn überhaupt erwähnte. Und Papa hatte auch recht. Er musste einfach ein Exempel statuieren. Disziplin ist doch wichtig, oder, Grandmaman?«
Sie antwortete nicht. Die Bibliotheksuhr hat bereits geschlagen. Es ist schon reichlich Zeit vergangen. »Da ist noch etwas, worüber ich mit dir reden möchte, Alexander. Etwas von allergröÃter Wichtigkeit.« Sie holt tief Luft. »Das Amt des Zaren â¦Â«
Er lässt sie nicht ausreden. »Nein, Grandmaman, bitte!«
Die Worte, die sie hat sagen wollen, fliegen ungesagt davon. Gut, dann sei es so; denn es gefällt ihr, dass Alexander weià oder zumindest erraten hat, was sie zu sagen wünscht. Voraussicht ist von Vorteil für einen zukünftigen Zaren.
»Es wird Papa umbringen ⦠er wird mir nie verzeihen.«
Alexanders Mimik verkündet seine Gefühle wie eine am Stadttor ausgehängte Erklärung: Ihm graust bei dem Gedanken an den Zorn seines Vaters. Daran, dass er angeschrien, des Verrats bezichtigt werden wird. Dass ihm vorgeworfen werden wird, er bringe seinen Vater ins Grab. Nein, so würde Paul es nicht sagen. Bei ihm hieÃe es: Warum hängst du mir nicht gleich einen Mühlstein um den Hals und wirfst mich in die Newa? Und wenn ich dann in den letzten Atemzügen liege, brichst du in Jubel aus.
Der gute Monsieur Alexander mit seinem weichen Herzen. Der vergisst, dass der Gefallen, den man dem einen tut, einen anderen verletzt.
»Was redest du da für einen Unsinn, Kind«, tadelt sie ihn sanft und ignoriert die hektischen roten Flecken auf den Wangen ihres Enkels.
Es ist nie leicht, jemanden zu verletzen, den man liebt. Aber sie hat sich entschieden.
»Wenn ich sterbe, wirst du mir nachfolgen, Alexander, nicht dein Vater. Ich bitte dich nicht um deine Zustimmung. Ich möchte es dich nur wissen lassen.«
Recht unverblümt vielleicht, aber jetzt ist nicht die Zeit, Gründe anzugeben, sondern ihren Standpunkt klarzumachen. Um dem Moment die Schärfe zu nehmen, legt sie den Arm um ihn und spürt, wie er erstarrt.
»Wir reden von einer fernen Zukunft, Alexander. Ich bin noch nicht bereit zu sterben.« Ihre Stimme klingt heiter und warm, wirkt besänftigend auf Alexander und das, was ihm durch den Kopf geht. Schafft Raum für die noch sehr im Dunkeln liegenden Veränderungen.
Er hört zu, nickt, immer noch mit gerunzelter Stirn. Egal. Monsieur Alexander wird sein Schicksal akzeptieren. Das hat er immer.
»Wir werden später noch einmal darüber reden. Vielleicht, wenn Alexandrine nach Stockholm abgereist ist«, sagt sie. Sein rötliches Haar ist dicht, fühlt sich elastisch an. Wie Schaffell.
»Ja, Grandmaman.«
»Und vergiss nicht, du bist nicht verantwortlich für das, was dein Vater denkt oder tut. Verantwortlich bist du nur für dich selbst.«
Alexander blickt sie mit seinen blauen Augen an, den Augen mit den braunen Flecken. Es sind die Anhalt-Zerbst-Augen, das Erbe ihres Vaters. »Du hast recht, Grandmaman«, sagt er. »Ich verspreche, es nicht zu vergessen.«
Kapitulation? Schon?
Doch es ist keine Kapitulation. Ihre Worte haben ihn nicht überzeugt. Das erkennt sie an seiner Miene, am Mahlen seines Kiefers. Er hat aber so viel an Boden verloren, dass er beschlossen hat, er brauche Verstärkung. Also zieht er sich zurück, tut so, als wäre er einverstanden. Fürs Erste.
Im Grunde keine schlechte Strategie, auch wenn sie nicht funktionieren wird.
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Sie hatte gehofft, dass Rogerson sich, nachdem sie ihn mehrere Tage lang nicht vorgelassen hat, weniger selbstsicher, weniger voreingenommen verhalten würde. Sie hat sich geirrt.
»In Schottland glauben die Leute, wenn man ein Pferdehaar ins Wasser wirft, verwandelt es sich in einen Aal«, murmelt ihr Arzt, während er ihr Bein mit einem VergröÃerungsglas untersucht und bei einer neuen geröteten Stelle, die über Nacht aufgetaucht ist, besorgt mit der Zunge schnalzt.
»Aber der Schmerz hat nachgelassen«, insistiert sie.
Rogerson stupst mit dem Finger auf die gerötete Stelle, als hätte er sie nicht gehört. Auf seiner Stirn erscheint eine steile
Falte, er legt das VergröÃerungsglas beiseite. »Und dass man Feen sehen kann, wenn man die Haut mit Aalöl einreibt.«
Sie lässt ihren Leibarzt grollen. Fortschritte, die sich nicht seiner Behandlung verdanken, wird er
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