Die Zarin der Nacht
Stockholm zu schicken«, erklärt sie ihrem Enkel. »Was meinst du dazu?«
Der Hof richtet alles für die Verlobungszeremonie her. Heitere Vorbereitungen mit viel Gelächter und hektischem Geflatter. Alexandrine muss immer wieder ihr Verlobungskleid anprobieren. Es ist aus weiÃem Satin und mit silbernen Rosenknospen bestickt. Ihre Schwester Maria ist eifersüchtig und wüsste gern, wann sie wohl verlobt wird. »Hat der schwedische König einen Bruder?«, will sie wissen.
»Ist Fürstin Daschkowa denn nicht krank?«, fragt Alexander. »Und hat sie dich nicht mit irgendetwas verärgert?«
»Sie hat mich tatsächlich verärgert«, antwortet sie. Mit ihm, ihrem klugen Erben, hat sie unendliche Geduld. »Sie hat die Veröffentlichung von Büchern erlaubt, die nicht hätten veröffentlicht werden dürfen.« Die Fürstin ist die Vorsitzende der Russischen Akademie. Sie sollte wissen, dass Wachsamkeit unerlässlich ist. Sollte frühzeitig erkennen, was Aufruhr schüren könnte.
Muss sie unverblümter werden? Es direkt formulieren? Alexander daran erinnern, dass der König und die Königin Frankreichs in hölzernen Karren in den Tod fuhren, dass der Pöbel das Königspaar und alle Monarchen verfluchte. Dass die Leichen von Aristokraten an den Pariser Laternen hingen oder in blutige Fetzen zerrissen wurden. War das der richtige Augenblick, um ein russisches Theaterstück zu veröffentlichen, in
dem ein Rebell einen Zaren züchtigt? Oder ein Buch, in dem der Autor die Kaiserin belehrt, wie sie Russland zu regieren habe? In dem er sie blind nennt! Ein Werkzeug intriganter Höflinge!
Nicht nötig. Ein zu gewaltsames Vorgehen funktioniert bei Alexander nicht. Am besten lässt man ihn sich allein durchtasten, seine eigenen Schlüsse ziehen.
»Ist es denn wirklich so wichtig, solche Gedanken zu zensieren?«, fragt Alexander. »Was nützt es, wenn man sie in den Untergrund verbannt?«
Sie nickt zustimmend. Als sie Alexanders Erziehung plante, waren einige Dinge von äuÃerster Wichtigkeit. Er musste, zum Beispiel, lernen, alles, was ihm beigebracht wurde, in Frage zu stellen. Und in der Lage sein, sich verschiedener Ausdrucksweisen zu bedienen. Etwa eine Fabel von Ãsop in schlichtem Stil nachzuerzählen. Und dann in pompösem Stil. Oder einen Brief so zu schreiben, als wäre er Achilles, kurz bevor er starb.
»Man darf mich informieren, aber nicht demütigen«, erläutert sie ihm. »Wer glaubt, irgendetwas funktioniere unter meiner Regierung nicht gut, der soll direkt zu mir kommen und mir sagen, was reformiert werden muss und warum. Du kennst mich gut, Alexander. Plausiblen Begründungen habe ich mich nie verschlossen. Aber Russland ist nicht reif für Aufrührer, die ihre kümmerlichen Ideen an StraÃenecken verkünden.«
Alexanders Blick wandert über ihren Schreibtisch und bleibt an ihrem Bernsteintintenfass hängen, dessen Kupferfarbe zu ihrem Haar passt. Ja, es ist nicht schwer für ein junges Herz, Partei zu ergreifen. Das Komplizierte zu vereinfachen. Zu vergessen, dass ein zukünftiger Herrscher seine eigenen Wünsche nicht mit denen seines Landes verwechseln darf. Und es ist die Aufgabe einer GroÃmutter, ein wachsames Auge auf ihren Enkelsohn zu haben. Ihn zu warnen, wenn er in seinem Urteil irrt. Ihn auf Fallgruben hinzuweisen, die er noch nicht sehen kann.
»Worte sind nicht harmlos, Alexander. Laut formulierte Ge
danken können Menschen tollkühn machen. Besonders solche Gedanken, die leichte Lösungen versprechen.«
Alexander runzelt die Stirn und lehnt sich nach hinten, als wollte er ihre Worte von sich fernhalten. War sie wieder zu forsch? Aber ihr Enkel ist kein Weichling.
»Was ist denn falsch daran, wenn man den Menschen das Recht gibt, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen, Grandmaman? So wie sie es in Amerika machen.«
»Die Amerikaner hegen viele Illusionen, Alexander. Auch sie werden lernen, dass es keinen Sinn hat, die Unwissenden um Rat zu fragen. Was nützt es, Menschen eine Stimme zu geben, deren Horizont beschränkt ist und deren Kopf voller Wunschdenken, voller kranker, unaufgeklärter Gedanken steckt.«
»Und was ist mit der Idee, dass die Würde des Menschen zu respektieren sei?«
»Aber der Mensch ist ein Tier, Alexander. Der animalische Instinkt will nicht in Frieden leben, er will horten und
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