Die Zarin der Nacht
Sorte von Gesprächen, in denen es nicht um Schlachten und Feldzüge geht, sondern darum, wie lang ein Zopf zu sein hat und dass die geschickte Anwendung von Haarpuder nicht â wie einige russische Kommandanten behaupten â lächerlich
ist, sondern der Beweis für Disziplin. Es gab auch die unvermeidliche Parade mit Demonstrationen von Bajonett-Attacken. Eine Vorführung preuÃischen Drills.
Wie vorhersehbar ihr Sohn ist! Wie wenig fähig, die eingefahrenen Bahnen seines schwachen Verstandes zu verlassen! Gibt es irgendetwas, womit er sie überraschen könnte?
Na ja, denkt sie nach kurzer Ãberlegung: Man muss vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht.
Anjetschka, die genau um die Wirkung ihrer Worte weiÃ, schildert aufgeregt folgende Szene:
Im prächtigen Speisesaal von Gatschina mit seiner geschnitzten Decke und all den Gemälden berühmter Schlachten an den Wänden führt Paul den Vorsitz an der Tafel. Er hat zu viel getrunken, was häufig geschieht; diesmal jedoch macht ihn der Wein nicht nur unbesonnen und boshaft, sondern auch sentimental. Oder vielleicht ist es, wie die unverbesserliche Anjetschka meint, gar nicht allein der Wein, sondern auch Alexandrines bevorstehende Hochzeit und die Anwesenheit jenes Mannes, der bald sein Lager mit ihr teilen wird. Ein Gedanke, der einen Vater beunruhigen könnte, vermutet Anjetschka.
Jeden Vater.
Um fortzufahren: Paul redet ziemlich viel. Viel zu viel ist eine korrektere Beschreibung. Lässt kaum jemanden anders zu Wort kommen. Erinnert an Geschichten aus Alexandrines Kindheit. Denn seine älteste Tochter â das möchte er seinen berühmten Gast doch wissen lassen â sei nicht immer so reizend gewesen wie jetzt.
Es ist verlockend, sich in Anjetschkas Geschichte hineinziehen zu lassen. Erinnerungen an Alexandrine, wie sie verfaulte Pflaumen in Konstantins Reitstiefel steckte. Wie sie Katzenpfoten auf die Wand in ihrem Schlafzimmer malte. Mit ihren eigenen ruÃigen Fingern! Wie sie ihre Hände hinter dem Rücken versteckte und behauptete, sie habe keine Ahnung, wer das gemacht habe!
Verlockend auch, mit Anjetschka zu lachen. Zu lachen und das Vergehen der Zeit zu vergessen.
Aber deshalb ist Anjetschka nicht hier und darf sich auf der Ottomane lümmeln.
»Und was geschah dann?«
Von einem Moment auf den anderen wird Anjetschka ernst. Das Essen, sagt sie, war zu Ende. Auf ein Zeichen von Maria Fjodorowna erhoben sich alle anwesenden Damen und verlieÃen den Speisesaal.
Und drauÃen vor der Tür hörte Anjetschkas Schützling im anschlieÃenden Stimmendurcheinander dann den Namen: KoÅciuszko. Und in das absolute Schweigen hinein, das dieser Name bei den Schweden auslöste, nannte Paul Pawlowitsch, der sich für einen Prinzen hält, der des russischen Throns würdig ist, den polnischen Rebellen, den Gefangenen seiner Mutter, »einen tapferen General, den ich sehr bewundere«.
»Ich wollte meinen Ohren nicht trauen«, sagt Anjetschka, schüttelt den Kopf und kraust die Nase. »Aber das ist kein Name, den man leicht verwechseln kann, Madame.«
Â
Wie die SchmeiÃfliegen, denkt Katharina am folgenden Morgen, als sie die tägliche Flut an Petitionen ihrer neuen polnischen Untertanen durchsieht, die hoffen, vom Unglück ihrer Landsleute profitieren zu können.
Eroberungen verschieben nicht nur Grenzen. Ein niedergeschlagener Aufstand verschiebt Besitzverhältnisse. Die ihn unterstützt haben, verlieren, und die dagegen gekämpft haben, können auf eine Belohnung hoffen. Jedes konfiszierte Grundeigentum wird das Objekt von jemandes Begierde. Motiv für einen ehrlichen Bericht, Grund für ein Bekenntnis. Anlass für eine Bitte.
Feinde werden zu Freunden, Freunde zu Feinden. Aber Alexander braucht das noch nicht zu wissen. Seine GroÃmutter sorgt jetzt dafür, dass er wenig Gelegenheit für MüÃiggang hat.
Keine Besuche mehr in Gatschina, keine langen Diskussionen mit Adam über das Wesen der amerikanischen Demokratie oder irgendwelchen anderen jugendlichen Unsinn. Jeden Morgen bittet sie ihren Enkel zu sich in ihr Arbeitszimmer. Mit einem ängstlichen Charakter wie Alexander geht man am besten in langsamen Schritten vor. Er wird nicht einmal bemerken, dass er schon nach wenigen Wochen zunehmend an ihren Vorhaben beteiligt ist.
»Ich denke darüber nach, Fürstin Daschkowa mit Alexandrine nach
Weitere Kostenlose Bücher