Die Zarin der Nacht
hier geht. Wenn ein Baum im Wald stürzt, gibt es mehr Raum und Licht für neues Wachstum. Jetzt werden Zeichen gesetzt, die über Sieg und Niederlage entscheiden werden: Deine Tränen gegen meine demütige Hingabe. Dein böser Klatsch gegen meine Gebete. Deine finsteren Blicke gegen meine zitternden Hände.
Ein Schritt, dann noch einer. Eine tiefe Verneigung vor der Ikone. Die Finger berühren den Boden, schlagen das Kreuzzeichen. Gott der Allmächtige ist mein Zeuge, sagen diese Gesten. Seht mich an, ich habe die Ewigkeit im Blick und das Heil Russlands im Sinn, sagen ihre Augen. Seht und vergleicht!
Das ist der Kampf, den die GroÃfürstin führen wird. Und sie wird sich nicht ablenken und aufhalten lassen. Nicht, wenn der Kaiserin Blut aus Mund und Nase flieÃt. Nicht, wenn sie an Laken reiÃt und sich umherwirft wie in einem Boot auf stürmischer See. Auch wenn sie wild zu heulen beginnt, rau und schrill wie ein Fuchs in der Falle. Nicht, wenn das Kind in ihr sich bewegt und sie in seinem Zucken Schmerz und VerheiÃung spürt.
Nicht einmal dann, wenn ihr Mann kommt und alle vor Kaiser Peter III . auf die Knie fallen.
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Ich will diese Gerüchte nicht glauben, schreibt Stanislaw, ihr polnischer Geliebter, der immer noch denkt, ihr Herz gehöre
ihm. Er war einmal ihr ganzer Trost, und die Erinnerung an ihre langen Gespräche über Schicksal und Bestimmung und über die Macht von Träumen ist immer noch in ihr lebendig. Liebe verschwindet nicht, auch wenn sie sich zurückzieht ins Schattenhafte.
Ich treffe Vorbereitungen, zu dir zu reisen.
Seine Briefe sind verschlüsselt. Das, womit alle gerechnet haben, ist mittlerweile eingetreten: Die Kaiserin ist tot â das Leben geht weiter. Die Höflinge haben sich um den neuen Kaiser Peter III . geschart. Russland hat einen neuen Zaren. Der Enkel Peters des GroÃen wird der Nation ein gütiger Vater sein. Es hat sich bis nach Warschau herumgesprochen, dass er seine ungeliebte Frau nicht in seiner Nähe haben möchte. Dass er sie vor dem versammelten Hof gedemütigt hat. Dass er sich überall mit seiner Mätresse zeigt.
In Stanislaws Briefen werden gewisse Zugeständnisse sichtbar. Er ist, wenn auch widerwillig, bereit, sich in das Notwendige zu fügen: Seine geliebte Sophie ist eine Frau, die Schutz braucht, und dieser Orlow, von dem er jetzt so oft sprechen hört, ist ein Soldat, der sein Leben für sie opfern würde. Und er hat bei den Garderegimentern viele Freunde, die ihr nützlich sein können. Mit manchen Widrigkeiten des Lebens muss man sich eben abfinden, wenn es auch schwerfällt. Aber sobald Sophie auÃer Gefahr ist, wird man diesen Orlow groÃzügig belohnen und sich seiner entledigen.
Sie wirft seine Briefe ins Feuer. Der, den sie ihm schickt, ist kurz und unmissverständlich.
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Ich verbiete dir herzukommen. Ich werde Tag und Nacht beobachtet. Deine Anwesenheit würde meine Lage nur noch verschlimmern. Bereits deine Briefe sind gefährlich für mich, zumal da sie verschlüsselt sind. Schreibe mir nicht so häufig oder besser: Schreibe mir überhaupt nicht mehr.
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Grigori Orlow weià nichts von dieser Korrespondenz. »Wie hast du ihn jemals lieben können, Katinka?«, hat er einmal lachend gefragt. Diesen feinsinnigen polnischen Grafen, der glaubt, ein elegant gedrechselter Satz könne mehr bewirken als ein Säbelhieb.
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Bei der GroÃfürstin, die in ihrer Wohnung scheinbar von aller Welt abgeschlossen lebt wie eine Bienenkönigin, laufen Nachrichten aus allen Himmelsrichtungen zusammen und geben Kunde davon, dass sich ihr Machtbereich ständig erweitert.
Ihre Freunde, ihre Verbündeten, ihre Spione sind rastlos im Schatten tätig, werben mit schönen verheiÃungsvollen Reden und mit Gold für ihre Sache, aber auch mit düsteren Prognosen für den Fall, dass man den Dingen ihren Lauf lässt: Peter III . wird die russische Armee zugrunde richten und die russische Kirche. Chaos und Auflösung sind zu erwarten. Schmach und Niedergang.
Macht entsteht nach und nach, wenn die Hoffnung auf Gewinn und Karriere immer mehr Menschen anzieht, die sich einer Verschwörung anschlieÃen und mit alten Loyalitäten brechen.
Die Orlows und ihre Kameraden agitieren unermüdlich bei den Garderegimentern. Katja Daschkowa trägt Versprechungen und Garantien der künftigen Herrscherin in die feinsten
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