Die Zarin der Nacht
jeden Tag nach ihm sehen â¦Â«
Es ist verlockend, sich ein ganz anderes Leben vorzustellen. Ein hell erleuchtetes Wohnzimmer, Grigori an ihrer Seite, um sie herum Kinder, die sie formen und erziehen kann, wie sie es für richtig hält. Kinder brauchen Licht und Freiheit. Sie müssen Antworten auf ihre Fragen bekommen. Man muss ihnen Geschichten zu lesen geben, die sie lehren, dass man sich kein Urteil über Dinge erlauben darf, die man noch nicht untersucht hat. Sie müssen lernen, dass alles möglich ist, wenn das Licht der Vernunft die Dunkelheit erhellt.
Aber warum bei Phantasien verweilen, die niemals wirklich werden können?
Es ist besser, sie denkt an das, was möglich ist.
Als das Kind, das ihr den Tod oder Schande und Elend hätte bringen können, geboren ist und sicher in den Armen der Hebamme ruht, fühlt Katharina nichts als tiefe Erleichterung.
Neun Monate hat sie darauf gewartet: Das abzutun, was nicht sein kann, und bereit zu sein für das, was möglich ist.
Es ist April 1762. Der Kaiser von Russland wird niemals erfahren, dass er seine einzige Chance, sie zu besiegen, verpasst hat. Durch das offene Fenster weht der Geruch von Rauch herein, von der StraÃe her schallen Hundegebell und das Geschrei der schaulustigen Menge.
DrauÃen hört sie Grigoris Schritte, ungeduldig, voller Energie. Er ist jetzt Vater. Er hat einen Sohn.
Alexej Grigorjewitsch.
Â
Als es Abend wird, hebt Grigori sie aus dem Bett und trägt sie zum Fenster. Sie sieht die verkohlten Reste eines abgebrannten Hauses, zwischen denen immer noch Flammen züngeln, einen
Hof, auf dem verstörte Tiere wie Dämonen herumirren, eine Gestalt, die ein in ein graues Tuch gewickeltes Bündel trägt, in eine Kutsche steigt und davonfährt.
*
Nachdem das Kind der Liebe auf der Welt und aus dem Palast geschmuggelt ist, wird Katharina kühner. Auf der Wassiljewski-Insel, versteckt im Keller einer Druckerei, liegen die Plakate, die, sobald sie sich zur Kaiserin erklärt hat, auf Türen und Säulen überall in der Stadt geklebt werden sollen. Diese Proklamation enthält ihr heiliges Gelöbnis an die Nation: Sie wird an der Vision Peters des GroÃen, des Riesen unter den Zaren, festhalten. Die Russen werden wieder stolz sein auf ihr Vaterland, und das alte Europa wird wohl oder übel das vor Energie und Kraft strotzende Russland als ebenbürtig respektieren müssen.
Immer wieder erreichen sie neue Zweifel oder Warnungen. Ist es wahr oder falsch?, fragt sie sich. Ist es eine erwiesene Tatsache oder nur eine Möglichkeit?
Haben wir etwas übersehen? Etwas dem Zufall überlassen?
Ist noch etwas zu tun?
Wer soll es erledigen?
Sie ist nicht so eitel, dass sie sich für allmächtig hielte. Man kann nicht alles voraussehen, nicht für alle Fälle Vorsorge treffen. Nicht restlos alles geheim halten. Wenn der kritische Moment da ist, wird sie sich fragen müssen: Werde ich herrschen? Oder werde ich untergehen?
Â
In einer weiÃen Juninacht 1762 fällt die Entscheidung. Sie fährt auf der staubigen, holprigen StraÃe von Peterhof nach Sankt Petersburg zur Kaserne. In einem schlichten schwarzen Trauerkleid tritt sie vor die Soldaten der Garderegimenter und bittet sie um ihre Hilfe: »Verwaist und schutzlos nach dem Hin
gang unserer geliebten Kaiserin, lege ich mein Geschick und das meines Sohnes in eure Hände.«
Die Orlows halten ihre Versprechen. Sie machen keine leeren Worte.
In ihrer Hand eine Ikone. Auf ihrer Stirn ein schimmernder Fleck von dem heiligen Ãl, mit dem der Regimentskaplan sie gesalbt hat. Die eingeübte Rede geht ihr glatt von den Lippen. Der Ruhm unseres geliebten Vaterlandes ⦠das Ende der Tyrannei â¦
Sie legt das Trauerkleid ab und zieht die grüne Preobraschenski-Uniform an, die ihr perfekt passt. Ich bin eine von euch, so lautet ihre Botschaft.
»Wir haben es geschafft, Katinka. Wir haben das Spiel gewonnen.«
Das ist kein Spiel, denkt sie. Es ist harte geduldige Arbeit, die richtigen Bündnisse zu schmieden. Zu untergraben, was man nicht ändern kann.
Die Männer, die dicht gedrängt um sie stehen, jubeln ihr begeistert zu.
Sie hat sich schon überlegt, mit welchen Worten sie das neue Regime der Ordnung und der Vernunft ankündigen wird.
Es wird nicht alles von heute auf morgen zu schaffen sein, wird sie sagen. Russland ist riesig. Viele verschiedene Völker müssen
Weitere Kostenlose Bücher