Die Zarin der Nacht
Grenze finden immer Gefechte statt.
Ihr Absatz bohrt sich in den Teppich. Hinterher wird man das Loch in dem Gewebe sehen können.
Grischa Potjomkin hat keine Angst vor ihrem Zorn. Seine letzten Worte, bevor er geht, lauten: »Zertreten Sie mich, vernichten Sie mich oder nehmen Sie meine Liebe zur Kenntnis.«
*
Du wirst nicht an ihn denken, befiehlt sie sich selbst. So einfach ist das.
Es ist nicht leicht, aber sie kann es schaffen. Da ist zuerst einmal die Hochzeit ihres Sohnes. Sie muss Gäste empfangen. Sie mit all dem beeindrucken, was sie bereits geleistet hat.
Als ob das allein noch nicht genügte, um ihre Gedanken zu beschäftigen, sorgt der Kosake im Ural für weitere Ablenkung, indem er sich als Peter III . ausgibt. »Mit Hilfe treuer Diener ist es mir gelungen, den mörderischen Händen meiner Ehefrau zu entkommen«, erklärt er. »Ich bin zurückgekehrt, um mein Volk von dieser sündigen Frau zu befreien und meinen Sohn auf den Thron zu bringen, der ihm zusteht.«
Der Mann heiÃt Jemeljan Pugatschow. Er hat keinerlei Ãhnlichkeit mit Peter. Er ist klein und dick, kann weder lesen noch schreiben und spricht nur Russisch. Aber diejenigen, die ihm glauben wollen, würden ihm selbst die phantastischsten Lügengeschichten abnehmen. Das Pack, das er befehligt, begnügt sich nicht mehr damit, Weinkeller zu plündern und Silberbesteck zu stehlen. Diese Banditen schlitzen jetzt Bäuche auf und schneiden jedem die Kehle durch, der sich ihnen entgegenstellt. Die Horde zieht nach Osten.
Sie kennt diese Leute. Falsche Zaren, die an die Macht wollen. In ihrem Gefolge verwilderte Bauern, schmutzige, skrupellose Kerle, getrieben von Geldgier und rohen Lüsten. Sie wollen in Blut und Samen baden, verbreiten überall Tod und Schrecken.
Es braucht so wenig. Behaupte, du seist Peter oder die Tochter Elisabeths. Sammle ein paar Dummköpfe und ein paar Halsabschneider um dich. Versprich ihnen das Blaue vom Himmel. Alles ist möglich, denken sie. Alle Schranken werden fallen, alle Schranken werden niedergerissen werden. Auch dem Allerkleinsten von ihnen wird Gerechtigkeit zuteil werden.
Mach sie mit Hoffnung und Furcht gefügig, mit Schmeicheln und Drohen. Gib ihnen einen Traum, der nur so gleiÃt vor Mög
lichkeiten. Immer mehr Gesindel wird dir zuströmen. Mach dir Enttäuschungen zunutze, gescheiterten Ehrgeiz.
Verschenke, was dir nicht gehört.
Versprechungen machen dich groà und stark.
*
Generalleutnant Potjomkin ist wieder in Sankt Petersburg, aber er lässt sich nicht bei Hof sehen.
Warum?
Wenn Ihre kaiserliche Majestät es zu wissen verlangt, muss ihr treuer Untertan gehorchen. Er kommt nicht an den Hof, weil er verzweifelt ist. Die Frau, die er mit ganzer Seele liebt, erwidert seine Gefühle nicht. Nur in einer Klosterzelle wird er innere Ruhe finden. Er wird immerfort bis an sein Lebensende für die Geliebte beten.
Er ist wieder da, denkt sie.
Er ist wieder da, wiederholt sie vor ihrem Spiegelbild, wenn sie stehen bleibt, um die Perlen in ihrem Haar zurechtzurücken oder das Fichu, das ihren Ausschnitt bedeckt.
Auch wenn sie noch so beschäftigt ist, gibt es immer wieder Momente, da der Gedanke an ihn sie plötzlich innehalten lässt. Der muskulöse Arm eines antiken Helden auf einem der Gemälde, die gerade aus Paris eingetroffen sind, sticht ihr ins Auge. Oder jemand erwähnt Generalleutnant Potjomkin, lobt seine Tapferkeit an der Front, bei der Eroberung von Bukarest.
Vom Newski-Kloster kommen jeden Tag Botschaften. Seine unselige heftige Leidenschaft hat Potjomkin in die Verzweiflung getrieben. Er hat sich von der Welt zurückgezogen â ihm blieb nichts anderes übrig: Schon ein flüchtiger Blick auf seine Kaiserin würde die Folterqualen, die er leidet, ins Unermessliche steigern. Ein Lied bringt seine Gefühle zum Ausdruck:
Â
Seit ich dich zum ersten Mal sah, denke ich nur noch an dich.
Aber ich kann es nie wagen, mich dir zu erklären.
Ach, welche Qual: Nie wirst du mein sein! Grausame
Götter!
Warum habt ihr sie mit solchem Zauber begabt
und sie dann entrückt in unerreichbar erhabene Höhe?
Â
Generalleutnant Potjomkin sieht abgezehrt aus, berichtet sein Freund und Abgesandter, seine hagere Gestalt wirkt gröÃer und doch zugleich verfallen. Er hat jetzt einen langen Bart. Stundenlang liegt er hingestreckt im Gebet auf dem Boden seiner Zelle. Er trinkt nichts
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