Die Zarin der Nacht
ernst drein. Was er vorschlägt, ist wohlüberlegt und vernünftig.
Zwanzig, vierzig Männer mit Musketen, die seine Drohungen und sein Flehen kaltlassen wird. Die immun sind gegen Bestechung. Sie muss es nur befehlen.
Ja.
Die Zeit ist auf ihrer Seite. Mit der Zeit wird Grigori Orlow zur Vernunft kommen.
Und sie wird alles tun, um eine Konfrontation zu vermeiden.
Sie will nicht, dass sie und er sich zu Worten hinreiÃen lassen, die sie später bereuen würden.
*
»Ist alles in Ordnung?«, fragt ihr ängstlicher Liebhaber. Ihm ist nicht wohl zumute. Wie sagt man einem Mann, dass seine Liebkosungen zu sanft, seine Küsse zu seicht sind?
An diesem Nachmittag in Zarskoje Selo geht ihr alles auf die Nerven. Die banja ist zu heiÃ, in den Wohnräumen ist es zu kalt, obwohl überall prasselnde Feuer brennen. Die Zeit bleibt stehen, kriecht träge dahin, um im nächsten Moment in erschreckendem Tempo unaufhaltsam voranzustürmen. Bilder setzen sich in ihr fest, klebrig wie Teer. Der Augenblick vor zwölf Jahren am Tag des Staatsstreichs, als ein junger Unteroffizier zu ihr hin ritt, um ihr sein Portepee zu geben. Ritten sie nicht damals schon Seite an Seite?
Sie erinnert sich an den seidenen Schimmer von Grigori Potjomkins Haar, seine anzüglichen Blicke. Flinke, kühne Gesten. Ein unterdrücktes Schmunzeln. Ihre Brustwarzen unter dem Korsett kitzeln angenehm bei diesen Gedanken. Er reizt mich, denkt sie, aber ich bin nicht in ihn vernarrt. Was ihn anzieht, ist, dass sie unerreichbar für ihn ist. Er will erobern, und er wird das, was er erobert hat, verachten. So einem Mann ist sie schon einmal auf den Leim gegangen. Sie will es kein zweites Mal tun.
Der lustlose Mann, den sie seit einigen Monaten in ihr Schlafzimmer lässt, der ihr folgt wie ein streunender Hund, wiederholt seine Frage: »Ist alles gut? Gefalle ich Ihnen?«
Das sind keine klugen Fragen. Sie laden nur zum Lügen ein. Könnten zu Weinkrämpfen, zu beleidigtem Schmollen führen. Plötzlich fühlt sie sich schuldig.
Sie dreht ein Stundenglas um und sieht zu, wie der Sand durch die enge Ãffnung in der Mitte rinnt.
»Sie müssen mich jetzt entschuldigen«, murmelt sie. »Ich bin müde. Ich möchte allein sein.«
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Sie stürzt sich in die Arbeit.
Man kann zu erfolgreich sein, zu klug, zu weitblickend. In der europäischen Politik werden immer Mächte gegeneinander abgewogen. Wenn die Waagschalen nicht im Gleichgewicht sind, gibt es Ãrger. Die Siege der Russen beunruhigen die PreuÃen und versetzen die Ãsterreicher in helle Aufregung. In verschlüsselten Botschaften ist davon die Rede, dass man der russischen GefräÃigkeit einen Riegel vorschieben muss.
Zu welchen Zugeständnissen ist sie bereit, um nicht dem Zorn der Türken neue Nahrung zu geben?
Sie ist versucht, gar keine Zugeständnisse zu machen. Monatelang studiert sie Landkarten, zählt Zahlen zusammen. Wie viel Geld kostet ein Krieg? Was bringt er ein? Das sind keine einfachen Rechnungen. PreuÃen und Ãsterreich wollen Teile von Polen haben. Die Kaiserin von Russland kann sich auch einen Anteil nehmen. Den Löwenanteil, schreibt Friedrich von PreuÃen. Weit mehr, als wir bekommen.
Es ist ein schwieriger Handel. Gehört ihr Polen nicht bereits? Tut Stanislaw nicht alles, was sie von ihm verlangt?
Um des Friedens willen, sagt sie sich. Sie kann nicht zwei Kriege auf einmal führen, oder?
Aber ist es das wert, Teile von Polen abzugeben? Was ist, wenn sie versucht, Zeit zu gewinnen? Wenn sie sich verweigert?
Das Reich ist wie ein Flickenteppich. Neue Flicken kommen dazu, alte werden fadenscheinig und zerreiÃen.
Im Ural schart ein Jaik-Kosake unzufriedene Grubenarbeiter und entlaufene Leibeigene um sich. Eben erst haben sie wieder ein Landgut überfallen und geplündert. Sie haben alle Vorräte sowie Gold und Silber geraubt und sind mit ihrer Beute geflüchtet. In den Findelhäusern sterben die Kinder wie die
Fliegen. Die Ãrzte halten langatmige Vorträge über das Gleichgewicht der Körpersäfte und erklären dann, dass die medizinische Wissenschaft machtlos ist gegen die unmoralische Lebensweise der Armen. Paul ist mittlerweile volljährig und weist seine Mutter darauf hin, dass Maria Theresia ihren Sohn und Erben in die Kunst des Regierens einführt.
Der Thron ist ein einsamer Ort.
Von Gatschina schickt Grigori Orlow Sendboten.
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