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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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wirft er ihr vor? Der Alltag bei Hof ist voller Fallen. Sie ist so mächtig, dass durch jede kleine Geste von ihr jemand zu Schaden kommen oder in seinen Gefühlen verletzt werden kann.
    Sie spürt, dass sein Kopf den ihren berührt, während sie
schweigend die Zeichnung betrachten. Hübsch genug, um sie rahmen und irgendwo aufhängen zu lassen. Sie will sie nicht ständig vor Augen haben, aber es wäre vielleicht gut, sie hin und wieder anzusehen und über Fallen und leere Drohungen nachzusinnen.
    Grischenkas Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. »Denk nicht an die Fallen, Katinka.« Es verblüfft sie immer wieder, wie er auf Fragen antwortet, die sie noch gar nicht ausgesprochen hat.
    Die Pflanze, erklärt er, ist nicht deswegen interessant, weil sie so raffiniert ist, sondern weil sie deutlich macht, dass es möglich ist, durch Transformation von einem Modus der Existenz in einen anderen überzuwechseln. Diese Pflanze überschreitet die Grenze zum tierischen Leben.
    Sie kann umgekehrt auch seine Gedanken lesen. Wenn eine Pflanze zum Tier werden kann, dann können Liebende sich trennen und doch noch enger verbunden bleiben. Vereint in einer Weise, die anderen Menschen unvorstellbar ist.
    Â»Ein Mischwesen, das für den Übergang zu einer höheren Stufe spiritueller Entwicklung steht«, sagt Grischenka. »Von ihm sollten wir lernen.«
    Vor ihrem inneren Auge erscheint das Bild zweier Giganten, die Hand in Hand gehen. Turmhoch überragen sie die Massen der gewöhnlichen Menschen. Sie sind frei in ihren Sehnsüchten und Begierden. Ihre Schwächen bekümmern sie nicht. Sie sind stolz auf ihre Stärken. Der Hof wird sie wie gebannt beobachten, aber sie werden wie zwei Verschwörer sein und über das Befremden lachen, das sie erregen.
    Â»Wir sind verwöhnte Kinder der Vorsehung, Katinka. Wir bekommen alles, was das Herz begehrt. Wir müssen es nur wünschen.«
    Er sprüht nur so vor Ideen und Plänen. Er betrachtet das besiegte osmanische Reich wie ein Metzger ein fettes Schwein, das vor ihm am Haken hängt.
    Das Schwarze Meer friert niemals zu, die Häfen dort bleiben auch im Winter offen. Im Süden ist es warm, die Böden sind fruchtbar. Wo jetzt räuberische Tatarenhorden umherstreifen, sieht er Städte wachsen, Dörfer, üppige Gärten. Große Schiffe werden gebaut werden. Noch mehr ausländische Kolonisten werden kommen und die leeren Landstriche besiedeln. Größtmöglicher Wohlstand für möglichst viele Menschen.
    Niemand kann uns aufhalten, Katinka.
    Wir haben die Kraft. Das Wissen. Den Mut.
    Das ist das Jahrhundert Russlands.
    Niemand kann Russland je wieder ignorieren.
    Das ist es, was wir unseren Nachkommen hinterlassen.
    Wir schenken ihnen Kraft.
    Wir schenken ihnen Träume.
    Nur dann können wir in Frieden sterben.
    Grischenkas Stimme klingt verzückt. Sie hebt und senkt sich wie priesterlicher Gesang. Sein Auge leuchtet wie befeuert von seinen Visionen.
    Glaub mir, Katinka. Ich habe die Zukunft gesehen.
    Sie werden uns segnen.
    Wir haben schon gewonnen.
    Auch sie ist erfüllt von einem Gefühl des Triumphs, wenn auch ihre Zuversicht nicht aus mystischen Visionen fließt. Sie vertraut mehr auf gewissenhafte Kalkulation der Gewinne und Verluste, auf starke Nerven und eine ruhige Hand.
    Usurpatoren kann man in trügerischer Sicherheit wiegen und vernichten. Einen Feind kann man hinhalten und überlisten.
    Ein Enkel, frisch und unverdorben wie ein Stück neu gewebtes Tuch, kann für einen unvollkommenen Sohn entschädigen.
    *
    Â»Die Vorsehung meint es gut mit uns«, verkündet Grischenka jedes Mal, wenn er aus dem Süden nach Sankt Petersburg kommt. Er erzählt von prächtigen Obstgärten, von Flüssen voller Fische. Vom Reichtum des Landes künden auch Unmengen neuer Erlasse, Übereignungsurkunden, Statuten, Pläne von neuen Siedlungen, Papiere mit langen Zahlenkolonnen.
    Russlands Wohlstand wächst. Viel bleibt noch zu tun, aber viel ist auch schon geleistet worden. Wo früher nur Furcht regierte, hat Ordnung die Oberhand gewonnen. Wo Armut und Aberglaube die Menschen lähmten, scheint das Licht der Vernunft auf neue Schulen, Häuser und Krankenhäuser.
    Fruchtbar, ertragreich, prächtig, tüchtig, widerstandsfähig, das sind Adjektive, die sie häufig benutzt, wenn sie von dem Ackerland, den Viehherden, den Einwanderern aus Bayern,

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