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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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gerötet. Sicher war Wodka in dem Glas, nicht Wasser.
    Â 
    Ich bin das lebendige Brot … Wer von diesem Brot isst, wird leben in Ewigkeit.
    Â 
    Die Flüssigkeit, die aus ihrem Mund rinnt, ist gallenbitter. Das Atmen fällt ihr schwer.
    Der Priester macht das Kreuzzeichen.
    Â 
    Du Arzt und Helfer der Leidenden, Heiland und Tröster aller Betrübten … hab Erbarmen mit deiner Dienerin, die schwere Sünde auf sich geladen hat, und erlöse sie, Herr Jesus Christus, von aller Schuld, auf dass sie deinen göttlichen Namen preise.
    Â 
    Konstantin mahlt nervös mit den Zähnen. Er hat eine kleine Verletzung am Kinn, eine ganz feine verschorfte Schnittwunde. »Sie sind unterwegs«, sagt er. »Alle. Papa, Maman, meine Schwestern.«
    Alexander erwähnt er nicht.
    Blitzartig zuckt der Gedanke in ihr auf, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist. Vielleicht hatten die französischen Attentäter es auf ihn abgesehen, vielleicht liegt er mit zerschmettertem Schädel irgendwo in seinem Blut und wird niemals sein Versprechen einlösen können?
    Eine Erinnerung kommt ihr in den Sinn: Wild um sich schlagend, trampelt Konstantin ihre schönen Tulpen nieder, die die Gärtner mit so viel Mühe und Sorgfalt gepflegt haben. Rote und weiße Blütenblätter überall verstreut, die Stängel geknickt und zerfetzt, und mittendrin steht ihr Enkel und kreischt: »Schau mich an! Schau mich an!«
    Ein Kind, das auf Blumen eifersüchtig ist!
    Sie will ihn jetzt nicht ansehen. In dem dämmrigen Licht
kann sie langgezogene wellige Schmutzspuren an der Decke erkennen. Oder sind es vielleicht nur Schatten? Spielen ihre müden Augen ihr einen Streich? Die welligen Linien werden immer mehr und treten immer deutlicher hervor. Und dann strecken sie sich und sehen mit einem Mal aus wie die Gitterstäbe eines riesigen Käfigs.
    Â 
    15.05 Uhr
    Ihr Lebensfaden ist noch nicht gerissen.
    Eine siebenundsechzigjährige Frau kann sich von einem Schlaganfall wieder erholen. Vielleicht wird er bleibende Schäden hinterlassen, aber sie wird lernen, damit zu leben. Wenn sie nicht mehr gehen kann, wird man sie in einem Rollstuhl fahren. Wenn sie nicht mehr sprechen kann, wird sie schreiben.
    Ich habe noch Zeit, denkt sie. Ich werde noch Donner hören und Blitze sehen.
    Hagel kann die Tulpen im Garten zerstören, aber im Regenbogen bleibt immer das ganze Farbenspektrum erhalten.
    Die Schmerzen werden vergehen, oder ich werde damit leben.
    Von den Wimpern verschleiert sieht sie wieder den Spiegel. Darin ein faltiges Gesicht mit einem wie in einer Grimasse erstarrten Mund. Langsam verschwindet es hinter einem feuchten Nebelschleier.
    Das ist mein Atem, denkt sie. Ich lebe noch.
    Â 
    15.40 Uhr
    Le Noiraud zieht die Schultern hoch und atmet langsam aus. Ganz vorsichtig, als wäre sie ein Porzellanpüppchen, berührt er ihren Arm, der auf der Decke liegt, die Sotow über sie gebreitet hat. Die Haut an seinen Fingerknöcheln ist rot. Nach einer Erfrierung vor vielen Jahren hat sie nie wieder den wachsig blassen Ton angenommen, der sonst seinen Teint auszeichnet.
    Tränen laufen ihm über die gepuderten Wangen. Er fährt sich
mit dem Handrücken übers Gesicht und wischt ihn dann an seinem Jackett ab. Der elfenbeinfarbene Stoff wird mit Rouge verschmiert.
    Dieses Jackett habe ich dir geschenkt.
    Er riecht nach verbranntem Papier. In seinem Haar, seinen Koteletten entdeckt sie winzige Ascheflöckchen.
    Was hast du verbrannt? Das Journal, in dem du alle deine Einnahmen und Ausgaben verzeichnet hast? Die Liste der Geschenke, die du von mir erhalten hast? Meine Briefe an dich? Meine Befehle?
    Die Geräusche, die vom Korridor hereindringen, werden lauter. Schritte nähern sich der Tür, eine barsche Stimme ist zu hören.
    Le Noirauds Hände zittern. Sein Atem beschleunigt sich. Sein Blick schnellt in Richtung der Tür und wieder zurück zu ihr.
    Angst macht hässlich.
    Â»Du wirst nicht sterben, Katinka«, murmelt er. »Sie täuschen sich.«
    Â 
    Eine Szene aus der Vergangenheit kommt ihr in den Sinn: Ein Nachmittag in Zarskoje Selo. Hinter ihnen liegt, was sie »die Stunde der Liebe« nennen. In der Galerie überall Tupfen von Sonnenlicht. Die schwarzen Eisenstühle stehen im Kreis um den Tisch herum, der duftende Tee ist mit Honig aus Astrachan gesüßt, demselben Honig, den der Koch auf die Gurkenscheibchen

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