Die Zarin der Nacht
gespürt, Katinka?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf.
»Das kann doch nicht sein.«
Sie weià immer noch nicht, wovon er redet, aber dann hält er ihr den Glassplitter hin, den er aus ihrer FuÃsohle gezogen hat. Am Abend zuvor ist ihr eine Karaffe hinuntergefallen. Das Mädchen hat den Boden gewischt, aber offenbar ist eine Scherbe ihrer Aufmerksamkeit entgangen.
»Ich habe sie nicht gesehen«, sagt die Kaiserin.
Sie erkennt Furcht in Grischenkas gutem Auge. Was ihm Angst macht, ist nicht, dass sie die Scherbe, die auf dem Teppich lag, nicht bemerkt hat, sondern dass sie es nicht gespürt hat, als sie darauf trat und der Splitter sich tief in ihr Fleisch bohrte.
Dass sie einfach weitergegangen ist.
Â
15.00 Uhr
Der Traum, der über sie gekommen ist, besteht aus unzusammenhängenden Fetzen und lässt sie nicht los. Ein Brunnen, randvoll mit Wasser, ein Känguru, das mit seinen zierlichen Vorderpfoten boxt, ein Vogel vor einer Fensterscheibe, der erbittert immer wieder mit dem Schnabel nach einem Lichtreflex im Glas hackt, um ihn zu vertreiben.
Weiches, dichtes Moos bedeckt die steinerne Brunneneinfassung. Es gibt eine Fabel, die ihre Enkel immer sehr fasziniert hat: Zwei Frösche, die auf Wanderschaft gehen mussten, weil der Sumpf, in dem sie wohnten, ausgetrocknet ist, gelangen zu einem Brunnen und überlegen, ob sie hineinspringen sollen. »Warte«, sagt der Klügere von beiden. »Stell dir vor, der trocknet auch aus. Wie kommen wir dann wieder heraus?«
Konstantins schrille Stimme dringt zu ihr durch. »Wir haben eine Schlittenfahrt gemacht. Alexander war auch dabei. Da kam dieser Bote, der uns zurückrief. Er wollte nicht sagen, warum, nur, dass wir uns beeilen sollen. Und dann wollte der Posten uns nicht einlassen.«
Ihr jüngerer Enkel will wissen, was genau passiert ist. Gribowski berichtet, wie man die Tür geöffnet und die Kaiserin leblos auf dem Boden der Toilette gefunden hat. Wie sechs Lakaien sie aufgehoben und ins Schlafzimmer getragen haben. Natürlich beteuert er, dass sie alle keine Schuld trifft. Ja, sie haben sich Sorgen gemacht, aber wie hätten sie es wissen können? Niemand sonst darf davon erfahren.
»Warum liegt die Kaiserin immer noch auf dem Boden?«, schreit Konstantin. »Soll mein Vater sie so finden?«
Â
Paul ist auf dem Weg hierher?
Wo ist Alexander?
Â
Konstantins Worte lösen aufgeregte Betriebsamkeit aus. Viele eifrige Hände bemühen sich um die Kaiserin. Sie wird hochge
hoben und aufs Bett gelegt. Ja, so ist es besser. Von dem Baldachin über dem Bett blickt eine in Seide gewebte Minerva auf sie herab. Die Göttin ruht, den behelmten Kopf etwas zur Seite gekippt, um sie herum verstreut verschiedene Teile ihrer Rüstung.
Konstantin trägt einen weiÃen Uniformrock mit roten Ãrmelaufschlägen. Die Wahl der Regimentsfarben ist im Winterpalast natürlich keine bloÃe Geschmackssache. Diese Uniform ist die der kaiserlichen Leibhusaren, und das genügt, sie dem Sohn der Kaiserin verhasst zu machen. Der weiÃe Rock ist ein Signal, ein öffentliches Treuegelöbnis.
Konstantin setzt sich auf den Rand des Betts. Sie spürt, wie die Matratze unter seinem Gewicht nachgibt. Er ist unruhig, offenbar ringt er nach Worten. Das Kerzenlicht lässt seine Züge weicher wirken. Er bemüht sich um den würdigen Ernst, den er in diesem Moment braucht. Er will seinem Bruder zur Seite stehen.
Sie macht wieder einen Anlauf zu sprechen, aber vergebens. Sie denkt an den Markt im Winter. Geschlachtete Schweine, Rinder, Schafe. Ochsen stehen da auf steif gefrorenen Beinen. Konstantins Lider flattern, als er sie ansieht. Er wendet die Augen schnell wieder ab, als wäre ihr Anblick ihm peinlich.
Die Stimme des Geistlichen unterbricht sie in ihren Gedanken. »Hoheit, es ist Zeit. Können wir anfangen?«
Der Wind stöhnt im Kamin. Konstantin nickt und steht auf. Sotow reicht ihm ein Glas Wasser. Er leert es in einem Zug. Sein Gesicht wirkt immer noch finster, und sie empfindet plötzlich Mitleid mit ihm. Mitleid mit einem Kind, das von Leidenschaften zerrissen wird, über die es keine Gewalt hat.
Ihr Kopf schmerzt. Jemand macht sich am Feuer zu schaffen, legt Holz nach. Funken fliegen, Asche stiebt auf. Einen Moment lang wird es im Raum heller, dann ist es wieder dämmrig.
Konstantin hat den Kragenknopf seines Rocks geöffnet. Sei
ne Wangen sind
Weitere Kostenlose Bücher