Die Zarin der Nacht
kann Freundschaft nicht bleiben. Weil die Mächtigen die Freundschaft verscheuchen?
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10.25 Uhr
Ein Aufschrei reiÃt sie aus ihren Gedanken. Er kommt von drauÃen. Jemand vor der Tür bittet inständig darum, eingelassen zu werden.
Alexander?
»Wer war Hektors Mutter?«, fragte sie ihn einmal. »Was sangen die Sirenen? Welche Götter kamen Herkules zu Hilfe?«
Ihr Enkel leiert die auswendig gelernte Antwort herunter.
»Und jetzt dasselbe noch einmal, mein Lieber«, sagt sie. »Aber dieses Mal mit etwas mehr Geist und Schwung. Nicht diese blasierte Gleichgültigkeit eines vornehmen Idioten. Das passt nicht zu dir.«
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10.30 Uhr
Hände fassen sie an den Achseln, ziehen sie hoch und betten sie bequemer. Die Kissen, die man ihr untergeschoben hat, sind mit Daunen gefüllt und angenehm weich. Dankbar lässt sie ihren Kopf hineinsinken.
Die veränderte Lage bringt ein wenig Abkühlung, als hätte Grischenka in der banja ihren heiÃen, schwitzenden Körper mit frischem Wasser übergossen. Aber ihre Zunge fühlt sich aufgedunsen an und wie von einer bitteren, bleiernen Kruste umgeben. Rogerson betastet ihre Rippen, fühlt ihren Puls. Seine Bewegungen wirken fahrig nervös. Macht ihr Herzschlag ihm Sorgen?
Sie sollte aufpassen, was um sie herum vorgeht, aber etwas Schimmerndes zieht ihren Blick auf sich. Sie spannt die Gesichtsmuskeln an und schafft es, die Lider einen schmalen Spalt weit zu öffnen, eben genug, um den kleinen Handspiegel zu erkennen, den Rogerson ihr vors Gesicht hält. Die Edelsteine in der Fassung des Glases glitzern, eine goldene Kette blinkt. Das Gesicht im Spiegel ist aufgedunsen und rot.
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Das bin ich?
Mit offenem Mund und einem Speichelfaden am Kinn?
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Ein dummer alter Mann.
Mörder.
Trottel.
Auf welcher Seite stehst du? Auf meiner oder auf der meines Sohnes, der mich am liebsten tot sehen möchte, umgeben von alten Weibern in Schwarz, die um mich klagen und weinen?
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»Da! Sehen Sie, der Spiegel! Ihre Majestät atmet wieder.«
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11.30 Uhr
Was muss sie zur Kenntnis nehmen?
Den Schmerz, der jetzt wieder da ist.
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12.00 Uhr
Die Kanonen auf der Peter-und-Paul-Festung donnern. Dort liegt Elisabeth begraben. Und Peter der GroÃe.
Die Fensterscheiben erzittern. Krähen fliegen auf, krächzen lauten Protest. Wenn sie wirklich so klug sind, warum regen sie sich dann über etwas auf, das jeden Tag passiert?
Graf Besborodko gibt seine Anordnungen. Niemand darf den Palast verlassen. Niemand wird eingelassen. Niemand darf die Stadt verlassen, kein Bote, kein Kurier. Jedem, der um eine Audienz ersucht, ist mitzuteilen, die Kaiserin sei mit dringlichen politischen Angelegenheiten beschäftigt. Sie sollen warten, bis sie weiteren Bescheid erhalten. Und sich still verhalten.
Er ist nicht Grischenka, aber doch brauchbar genug. Den meisten anstehenden Geschäften ist er durchaus gewachsen. Ein Beutel voll Silbergeld, mit dem man in jedem Laden bezahlen kann, ist manchmal besser als viele Goldbarren. Sobald sie wieder sprechen kann, wird sie ihrem Minister ein passendes Geschenk überreichen: Einen Ring mit dem Bild einer Windrose, reich mit Brillanten besetzt und mit der eingravierten Widmung: In dankbarer Anerkennung der Tatsache, dass Sie immer wissen, in welche Richtung unsere Reise geht.
»Lassen Sie mich durch. Was geht hier vor?«
Könnte es Alexander sein? Vor der Tür? Aber warum die
ser bittende Ton? Ein Zar bittet nicht, Alexander. Er geht, wohin er will. Wer würde es wagen, ihn aufzuhalten?
»Ihre Majestät ruht gerade, Hoheit. Sie darf nicht gestört werden.«
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12.10 Uhr
Grischenka, flüstert sie, und er erscheint vor ihr, älter, als sie ihn in Erinnerung hat, und vom Alter verwüstet. Er hat gesprungene Adern an der Nase und unter den hässlichen Tränensäcken. Eine rote Haarsträhne hängt über seine Stirn.
»Was tust du da, Katinka?«, schreit er.
Sie versteht nicht, warum Grischenka sich so aufregt. Warum er sie nötigt, sich hinsetzen, warum er auf ihre Zofe schimpft.
Er kniet vor ihr und nimmt ihren geschwollenen Fuà in die Hand. Ihre FuÃnägel sind so dick und hart geworden, dass man eine besondere Zange braucht, um sie zu schneiden, aber Grischenka beachtet sie gar nicht. Er hat den Fuà hochgehoben und wischt ihn mit einem Taschentuch ab.
Das Tuch ist voller Blut.
»Hast du denn nichts
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