Die Zauberlehrlinge
würden nur zwei räum liche Dimensionen kennen: Länge und Breite. Dann stellen Sie sich vor, ich nehme einen Hula-Hoop-Reifen, streife ihn Ihnen über den Kopf und lasse ihn zu Ihren Füßen auf den Boden fallen. Dann sind Sie mein Gefangener. Sie können nicht entkommen.«
»Warum nicht? Ich brauche nur darüber zu steigen.«
»Aber gerade das können Sie ja nicht. Höhe, und damit die Idee, den Fuß zu heben, überhaupt einen Schritt zu tun, geht über Ihr Begriffsvermögen. Sie glauben nicht, dass die Höhe existiert. Der Reifen ist für Sie eine unüberwindliche Barriere. Sie sind durch die Begrenzungen Ihrer eigenen Sinne gefangen.«
»Sie spielen bloß mit Worten.«
»Ich spiele keineswegs. Wenn dieser Raum weder Türen noch Fenster hätte, würden Sie doch sagen, dass wir ihn niemals verlassen könnten, nicht?«
»Ich nehme es an, aber...«
»Ich könnte so einfach hinaustreten, wie Sie über den Hula-Hoop-Reifen steigen würden.« Einen Augenblick lang fiel Harry keine Erwiderung ein. Athene lächelte ihn an, weniger überlegen als vielmehr beschützend. »Verstehen Sie nicht, Harry? Die Macht, die diejenigen erlangen, die ein Bewusstsein für höhere Dimensionen gewinnen, ist eine Macht über diejenigen, die das nicht haben. Sie gefangen zu setzen, zu manipulieren, auszuspionieren, zu verletzen und letztlich umzubringen - ohne die leiseste Angst, entdeckt zu werden. Wer würde es erfahren, wer könnte es jemals herausfinden wenn ich Ihr Herz zusammenpressen würde, bis es zu schlagen aufhört?«
»Das ist nicht möglich.«
»Warum nicht? Wenn Haut und Knochen kein größeres Hindernis sind als ein Reifen um Ihre Füße?«
»Aber sie sind ein größeres Hindernis. Was Sie sagen, ist Wahnsinn.«
»Der Versuch kann im Wahnsinn enden, gewiss. Bei dem armen Carl war es so. Der Intellekt ist ein zerbrechliches Ding. Er kann nicht zu viel Druck aushalten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ein Versuch, sich höherer Dimensionen bewusst zu werden, Dobermann verrückt gemacht hat?«
»Ich sage, dass in Die implizite Topologie komplexer Zahlen Hinweise zu finden sind, Hinweise, die eine Spur bilden, denen im Laufe der Jahre zwei meiner Studenten zu folgen versucht haben. Ich kann die Hinweise nicht auslöschen. Das kann nur die Zeit. Wenn ich tot und vergessen bin und das letzte Exemplar meines Buches auf dem staubigen Regal irgendeiner obskuren Bibliothek vermodert ist, dann wird die Menschheit vor dem Geheimnis sicher sein.«
»Die Menschheit?«
»Sie ist es wert, vor ihrem eigenen Wahnsinn geschützt zu werden, meinen Sie nicht?«
»Ich meine, das hängt davon ab, wer diesen Schutz besorgt und warum.«
»Ich tue es, Harry. Und was das Warum angeht, so habe ich dafür in den fünfziger Jahren in Princeton genügend Grund gefunden. Zuerst war da Oppenheimer, bereit, nein, begierig zu gestehen, wie es sich anfühlte, seinen Mitmenschen ungeheure Zerstörungskräfte in die Hand gegeben zu haben. Erinnern Sie sich, was er damals sagte. Ich bin der Tod geworden, der Zerstörer von Welten. Er meinte es ernst. Er kenne die Sünde, sagte er mir. Er hat das Böse zum Leben erweckt, aus einem einzigen Uraniumatom. Wenn wir vor hundert Jahren hier gesessen hätten und ich Ihnen gesagt hätte, dass ein Stückchen Materie, nicht größer als eine Grapefruit, halb Suffolk zerstören könne, dann hätten Sie gesagt, das wäre - wie drückten Sie sich aus? - Wahnsinn. Aber dieser Wahnsinn wurde zum Kernstück der Verteidigungsstrategie dieses Landes. Und wahnsinnig war das Akronym, das zu seiner Beschreibung benutzt wurde.
Dann war da Einstein, der den Atomzertrümmerern fünfzig Jahre vorher den Weg geebnet hatte mit der schauerlichen Einfachheit der Gleichung, derentwegen man sich universal an ihn erinnerte: Energie ist gleich Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit. Damit legte er die Lunte, die Oppenheimer anzündete. Doch auch er schreckte vor den Konsequenzen zurück.
Ich kam regelmäßig nachmittags in Einsteins Büro, vorgeblich, weil er meinen Beitrag zu seiner Arbeit über die vereinheitlichte Feldtheorie schätzte. In Wirklichkeit wollte er ein Publikum für seine Zweifel an der Wünschbarkeit wissenschaftlichen Fortschritts. Er war klug genug, um zu spüren, dass man mich warnen musste. Hiroshima und Nagasaki hatten zu seiner Zufriedenheit bewiesen, dass die Folgen wissenschaftlicher Forschung immer unberechenbar und nie so positiv sind, wie der Wissenschaftler voraussagt. Seine Biographen
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