Die Zauberlehrlinge
hatte. Der Mann, den er vorhin mit seinem Hund gesehen hatte, hängte gerade sein Jackett in einen BMW und bereitete sich zur Abfahrt vor, der Postbote machte seine Runde. Sonst rührte sich nichts.
Harry öffnete die Nachttischschublade. Sie enthielt Papiertücher, eine Taschenuhr, die um 11.42 Uhr stehengeblieben war, ein schmales Taschenbuch mit einem Theaterstück von Tom Stoppard, von dem Harry gehört zu haben glaubte... und ein Spiralheft mit einem Bleistiftstummel daneben. Er nahm es heraus und blätterte es durch, doch alle Seiten waren leer. Wenn David es dort aufbewahrte, um nächtliche mathematische Einfälle festzuhalten, dann war er offenbar eher eine Lerche als eine Nachteule.
Da bemerkte Harry Papierreste in der Drahtspirale - offenbar war eine Seite herausgerissen worden, vielleicht auch mehrere. Dem Aufdruck auf dem Umschlag zufolge enthielt das Heft siebzig Seiten. Rasch zählte Harry sie durch: Es waren vierundsechzig. Sechs Blätter fehlten. Das bedeutete natürlich nichts, David konnte sie selbst entfernt haben. Aber trotzdem...
Harry ging hinüber zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Anzüge, Jacken, Hosen, Jeans, Hemden, Pullover, Krawatten. Dennoch vermittelten sie Harry einen stärkeren Eindruck von seiner seltsamen Beziehung zu David als alles andere, was er gesehen hatte. Der Besitzer der Kleidungsstücke war das, was er für Harry immer gewesen war: ein Abwesender, ein amputiertes Leben.
Harry schaute hinunter auf die Stiefel und Schuhe auf dem Boden des Schranks und bemerkte eine Hutschachtel, die hochkant hinten im Schrank stand. Also enthielt sie mit ziemlicher Sicherheit keinen Hut. Er zog sie heraus, löste die Schnur darum und nahm den Deckel ab.
In ihr fand er ein Durcheinander von Papieren: Alte Kontoauszüge und Quittungsabschnitte waren vermischt mit Landkarten, Reisebroschüren, Zeitungsausschnitten und Fototüten. Die Tüten enthielten nur Negative. Harry hielt einen Streifen ans Licht und identifizierte die unverkennbare Figur von Hope Brancaster, die sich in einem winzigen Badeanzug an einem Strand rekelte. Ein Abzug, besser noch eine Vergrößerung, wäre sicher sehenswert gewesen. Er legte den Streifen beiseite und sah den Rest durch.
Dann stieß er auf etwas, das er erkannte: einen Touristenführer von Lindos. Ein Bild des mittelalterlichen Kastells auf dem Hügel über den weißen Häusern der Stadt, eingerahmt von der vertrauten tiefblauen Ägäis und dem ebenso blauen Himmel, befand sich auf dem Umschlag. Wenn er die Szene lange genug betrachtete, konnte er vermutlich sogar die Villa ton Narvarkhon identifizieren, in der er neun verlorene Jahre zugebracht hatte. Er nahm den Führer aus der Schachtel und betrachtete ihn. David hatte ihn für siebenhundertfünfzig Drachmen in Papaiannous Geschenkladen erstanden, der Name des alten Gauners stand auf dem Etikett. Er hätte rechtens nicht mehr als fünfhundert dafür verlangen dürfen. Harry blätterte müßig die Seiten durch. Dabei fiel ein Foto heraus, ein Schnappschuss, der wohl als Lesezeichen gedient hatte. Er landete mit der Bildseite nach oben auf dem Fußboden, und Harry starrte ihn an.
Es war ein Bild von David, der an einem Tisch unter einem der Feigenbäume draußen vor der Taverne Silenou saß. Er trug ein gelbes Hemd mit offenem Kragen und grinste ungezwungen. Vor ihm stand ein Glas Bier, daneben lag mit ziemlicher Sicherheit derselbe Reiseführer, den Harry jetzt in der Hand hatte, offengehalten durch einen Teller mit einer halb aufgegessenen Portion von Kostas etwas zweifelhafter Pizza. Doch Harrys Aufmerksamkeit verweilte nicht beim Vordergrund. Er betrachtete das schattige Innere der Bar und konzentrierte sich auf die Gestalt eines Mannes, der an einem Türpfosten lehnte, niemand anderer als Harry selbst, ein paar betrunkene Minuten vor seiner unheilvollen Begegnung mit Torbens Freundin. Harry, wie er vor sechs Jahren gewesen war, dem Tiefpunkt seiner mittleren Jahre nahe. Harry, wie sein Sohn ihn seither in Erinnerung hatte.
»Darf ich fragen, was Sie eigentlich hier machen?« Harry fuhr überrascht auf und erblickte eine Frau von siebzig oder mehr Jahren, die ihn von der Tür her vorwurfsvoll ansah. Sie war klein, lebhaft, hatte scharfe Züge, taubengraues Haar, wache blaue Augen und ein leichtes Parkinsonsches Zittern. Sie trug ausgeleierte Segelkleidung, doch ihre Stimme und ihre Haltung verrieten, dass sie sich in Ballkleid und Perlen ebenso zu Hause gefühlt hätte.
»Wie sind Sie hier
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