Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
geistlichen Ratgebern zur Verwahrlosung der Kapelle bei und machte sie noch trübseliger.
    Madame mit ihrer Leidenschaft für das Anfertigen von Altartüchern erachtete diese Stätte für ein lohnendes Ziel. Doch die Dorfkirche war so viel heiterer, und es war so schön, im sonnigen Garten zu sitzen und das Erforderliche zu nähen, daß die Kapelle nur selten von ihren Schritten widerhallte. Margaret hatte dort einen Pflichtbesuch abgestattet, doch dann war ihr wieder all der Gram und Kummer eingefallen, den sie dort erlebt hatte, und so entschied sie sich dafür, Gott in der Natur anzubeten. Außer an Sonntagen, wenn in der Dorfkirche fröhliches Leben und Treiben herrschte.
    Nur Gilbert ging noch dorthin, aber auch er selten und nur, wenn er sich Papier, Tinte und Sand holen mußte, denn er steckte mitten in einer Schaffensphase. Zu nachtschlafender Zeit war es über ihn gekommen, eine überwältigende Eingebung zu einem Klagelied alten Stils, in dem es um einen christlichen Ritter ging, der von den Sarazenen gefangengehalten wurde. Das löste völlig neue Gedankengänge aus, wie er, der Meister des satirischen Gedichtes und der theologischen Polemik, sie so noch nie gedacht hatte. Und diese Gedankengänge wiederum lösten ein sehr vielschichtiges und erquickliches Selbstmitleid aus, doch warum ihm diese Gedanken während eines Aufenthalts im Hause seines Vaters kamen, das ihm der Gegenpol zu Kunst und Gelehrsamkeit schlechthin dünkte, das erkannte er nicht. Margaret war sehr glücklich, als sie ihn geistig so beschäftigt sah, denn er war immer guter Dinge, wenn die Erleuchtung über ihn kam. Dann funkelten seine Augen, und sein Gesicht strahlte. Wer ihn nicht kannte, sollte meinen, er wäre frisch verliebt.
    Aber genau in dem Augenblick schrieb Gilbert die Zeile nieder: »Gefährte nur die Sorge hier; Herr Jesus Christ, bleib Du bei mir…« Und als ihn der Gedanke an den armen gefangenen Kreuzritter fast zu Tränen rührte, machte sein Federkiel plitsch, spritz, und als er ihn ins Tintenhorn tunkte, war es leer.
    Verdammt! Völlig in Gedanken bei dem Rest der erhebenden und tragischen Zeile, die er unbedingt behalten mußte, sprang er vom Fenstersitz im Söller auf und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Wendeltreppe hinunter. Wie der Blitz war er in der Kapelle und hockte sich hinter den Altar, wo die Truhe mit den alten Priesterroben und dem Schreibzeug verwahrt wurde. Gerade hatte er die Tintenflasche gefunden, als er über sich eine Stimme hörte.
    »Blick auf, mein kühner Liebhaber, und sieh, was ich dir zu bieten habe.« Zunächst jedoch sah er auf dem Fußboden hinter der Truhe zwei nackte Füße. Sein Blick wanderte höher, und er sah nackte Knöchel und nackte Knie. Sein Blick wanderte noch höher, und da sah er die ganze Lady Petronilla, splitterfasernackt und mit Gänsehaut, denn in der Kapelle war es kühl. Er sah, daß ihr auf Armen und Beinen häßliche, stachlige Haare wuchsen und daß ihr das Schamhaar bis zum Nabel reichte. Im Dämmerlicht der Kapelle wirkte ihre Haut fahl und wie die eines Froschs. Haube und Ohrringe hatte sie nicht abgelegt. Er konnte sich nicht erinnern, je im Leben etwas so Unappetitliches und Ärgerliches gesehen zu haben. Zornig über die Störung, wiederholte er im Geist seine letzte Zeile, damit er das Ende nicht vergaß. »Ich sehe, daß Ihr die Farbe wechselt. Stürmisches Kriegerblut läßt sich nicht zähmen«, sagte, nein, flüsterte die Frau seines Bruders.
    »Merkt Ihr nicht, daß ich beschäftigt bin?« fragte Gilbert, der noch immer vor der Truhe kniete.
    »Stellt die Tintenflasche beiseite und nehmt etwas Verlockenderes in die Hand«, sagte Lady Petronilla und fuhr ihm durch das dunkle Lockenhaar.
    »Hände weg von meinem Haar, du Schlampe«, sagte er und stand jählings auf, die Tintenflasche noch immer in der Hand.
    »Wer besser als ein Bruder könnte wettmachen, was dem anderen Bruder fehlt? Zusammen zeugen wir den wahren Erben von Brokesford.«
    »Ihr seid noch immer irre. Ich gehe jetzt«, sagte Gilbert, machte auf den Hacken kehrt und kam eilends hinter dem Altar hervor.
    »Das werdet Ihr mir büßen. Ich kenne Euer größtes Geheimnis. Aha, jetzt wendet Ihr den Kopf und seht mich an! Ihr kommt für alle Zeiten ins Gefängnis und Euer Vater auch, wenn ich erzähle, was ich weiß.«
    »Was bringt Euch auf den Gedanken, Ihr wüßtet etwas?«
    »Ich weiß, ich weiß, wer an jenem Tag in der zerfallenen Einsiedelei bei der Quelle die Schatulle

Weitere Kostenlose Bücher