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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sind verderbte Runen«, verkündete er. »Sie sind schwierig zu lesen.« Nicht nur blind, sondern auch noch ein Betrüger, schoß es mir durch den Kopf.
    »Dann sind sie also gefälscht? Unsinnig?« fragte der Abt begierig.
    »Nein, sie haben einen Sinn«, sagte der greise Weise. »Sie sind verderbt, mehr nicht. Das hier sind verderbte sächsische Runen, nicht die echten Runen der Wikinger. Da zum Beispiel – oh, das ist interessant – hat sich der Schöpfer an stablosen Runen versucht und sie nicht hinbekommen. Diese Sachsen waren ein verrohtes, in tiefer Unwissenheit lebendes Volk.«
    »Er wagt es, meinen hehren Ahnen verroht zu nennen! Bei Gott, wenn er nicht so ein nutzloses Stück Trockenschinken wäre, würde ich wegen dieser Worte Hackfleisch aus ihm machen!« Sir Hubert stürmte mit wütender Miene auf und ab, die Hände zur Faust geballt, die wilden Brauen zusammengezogen.
    Der Greis jedoch murmelte etwas Unverständliches, während seine Finger erneut die Runen am Rand des Trinkhorns abtasteten. Nach einem Weilchen sagte er: »Die heiligen Runen haben gesprochen.«
    »Heilige Runen, o Gott, wann hört dieses Possenspiel endlich auf?« knurrte Gilbert, ließ sich auf die Bank an der Wand fallen und barg den Kopf in den Händen.
    »Die erste«, sagte der Greis, »lautet ›Thorwald‹.«
    »Thorwald, nicht Ingolf. Hört Ihr das?« sagte der Abt. »Das Horn ist falsch. Darum ist auch Ingolfs Schenkungsurkunde falsch.«
    »Wer zum Teufel ist dieser Thorwald? Wo bleibt Ingolf?« brüllte der Herr von Brokesford.
    »›Thorwald hat mich geschaffen‹«, sagte der Greis und streichelte dabei die erhabenen Linien. Der Richter bedachte den Abt mit einem bösen Blick.
    Der Greis brummelte weiter vor sich hin. »›Ingolf besitzt mich. Möge Ingolf mich besitzen. Gott, Gott schlage jeden, der mich Ingolf nimmt, mit Fluch und Tod, falls Ingolf mich nicht aus freien Stücken verschenkt.‹ So lauten die Runen. Derlei findet man oft, insbesondere auf Trinkhörnern aus kostbarem Metall. Oh, ich fühle edle Steine im Schnitzwerk. Und auch auf dem Drachen. Ja. Es ist heute genauso selten und wertvoll wie dazumal. Jetzt bin ich müde. Führt mich zu einem Ruheplätzchen. Ich bin für mein Alter zu weit gereist.«
    »Führt diesen ehrwürdigen Greis zu meinem eigenen Bett!« rief Sir Hubert. »O Wunder über Wunder! Ihr habt mir die Worte meines Ahnen entschlüsselt! Was kann ich Euch dafür geben?«
    »Ruhe«, sagte der Greis. »Und dann einen Schluck Apfelwein. Ihr habt doch Apfelwein?« Sir Hubert warf mir einen Blick zu. Ich nickte zustimmend, und er versicherte dem Alten eiligst, daß er Apfelwein bekommen solle. »Und danach weitere Runen«, sagte der Greis.
    »Wir tun, was in unseren Kräften steht«, trompetete Sir Hubert. »Mehr als die hier habe ich augenblicklich nicht, aber so wahr ich lebe, ich werde die ganze Gegend danach abkämmen. Auf, auf zum fröhlichen Runenjagen! Ihr sollt alle haben! Falls es auf zwanzig Meilen die Runde noch eine weitere Rune gibt, ich grabe sie für Euch aus! O gesegneter, heiliger blinder Halvard!«
    Doch jetzt zischelte Lady Petronilla ihrem Beichtvater etwas ins Ohr, umklammerte dabei seine Schultern mit Klauenfingern und zeigte auf Gilbert. Während Knechte dem altehrwürdigen Übersetzer die Treppe hochhalfen, kreischte sie: »Er lügt, er lügt! Ich habe gesehen, wie sie die Schatulle vergraben haben, o ja, und dann haben sie diesen alten Betrüger herangeschafft, daß er für sie lügt!«
    »Madame, seid versichert, weder die anderen noch ich hatten die geringste Ahnung, daß unser trefflicher Abt einen Runendeuter aufgetrieben hat«, sagte der Richter zu Dame Petronilla. »Ich glaube, wir haben genug gehört. Sir Hubert, was ficht diese Frau an?«
    Sir Hubert klopfte sich an die Stirn. »Meine Schwiegertochter. Von Sinnen nach dem Verlust eines Kindes. Ei, erst vorigen Monat hat ein Kanonikus von der Kathedrale vier Teufel bei ihr ausgetrieben. Das hat in der Gegend für einen Skandal gesorgt, da könnt Ihr jeden hier fragen.«
    »Beelzebub, Gottseibeiuns«, schrie Petronilla.
    »Da seht Ihr. Sie redet irre. Auf ihre Worte ist kein Verlaß. Ei, vor kurzem hat sie doch geweissagt, daß die Burg bald unter schwarzen Steinen mit weißen Streifen begraben würde, während sich hier rauchspeiende Dämonen tummelten. Mmpf!« sagte Sir Hubert, verschränkte die Arme und blickte der Irren fest ins Auge.
    Aber Petronilla hatte sich schon zur Frauenbank gewandt und zeigte auf Madame,

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