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Die Zauberquelle

Titel: Die Zauberquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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an. Auf einmal wußte ich Bescheid. Das war die schwache Stelle. Die Mönche hatten einen Mann gefunden, der Runen lesen konnte, oder, schlimmer noch, der so aussah, als könnte er es, und ihnen zuliebe lügen würde. Es war alles vorbei.
    Auf einem ihrer Ausflüge treppauf treppab blieb Petronilla am Fuß der Treppe stehen und lächelte bei den Worten des Abtes ein unangenehmes wölfisches Lächeln. »Vor kurzem durften wir, welch ein Glücksfall, diese Gruppe heiliger Dominikaner aus den fernen Ländern des Nordens jenseits des Meeres bei uns beherbergen. Sie legten auf unseren Wunsch hin freundlicherweise eine Pause auf ihrer Pilgerreise zum Schrein des gnadenreichen Märtyrers Thomas von Canterbury ein und wollen uns behilflich sein, dieses große Rätsel zu lösen. Der weise Mann hier, der blinde Halvard der Weise, hat viele seltsame und uralte Inschriften aus unserem Besitz entziffert. Möglicherweise kann er Licht in das Dunkel bringen, wer der ursprüngliche Besitzer des letzten, in der Schatulle gefundenen Gegenstandes ist.« Bei diesen Worten schufen sie an dem Tisch gleich unter der Estrade Platz für den Greis und holten Feder und Papier, um seine Worte aufzuschreiben.
    Falls der Abt erwartet hatte, die Kunde würde Sir Hubert gewaltig in die Glieder fahren, so mußte er zu seiner gelinden Verwunderung feststellen, daß dem nicht so war.
    »Das Trinkhorn meines heldenhaften Ahnen!« rief der alte Mann. »Es wird für mich Zeugnis ablegen! Seht, dort hängt es am Ehrenplatz in meinem Palas! Ingolf, dein Geist lebt! Erscheine, und rette die Mitgift deiner Tochter, deine heilige Quelle!« Alles blickte auf. War Sir Hubert mittlerweise genauso von Sinnen wie seine Schwiegertochter? Dennoch wußte jeder, daß er zu einer Heuchelei dieses Ausmaßes nicht fähig war. Schlau, ja, das war er, aber ein Schauspieler, nein. Irgendwie hatte es sich in seinem Kopf festgesetzt, daß alles stimmte: die Entdeckung, die Schatulle, das uralte Trinkhorn. Er glaubte tatsächlich an Malachis hirnverbrannte Erfindung, den legendären Ingolf den Sachsen. Ich hätte am liebsten geweint. O Malachi, solange ich dich kenne, hast du kein einziges Mal der Versuchung widerstehen können, allem das I-Tüpfelchen aufzusetzen. Warum? O warum? Vor meinem inneren Auge standen Bilder der Befragungen unter der Folter, Befragungen, um herauszufinden, wer sich das Testament Ingolfs des Sachsen ausgedacht hatte, lebenslange Besuche im königlichen Gefängnis von Newgate mit Essenspaketen für meinen gefangenen Ehemann. Und alles, weil Malachi günstig an ein altes Trinkhorn gekommen war und dem Ganzen unbedingt den letzten künstlerischen Schliff geben mußte. Das war kein Haus wert. Ich hätte mich schon irgendwie durchgeschlagen. Jetzt lag alles in Scherben. Ich warf Gilbert einen verstohlenen Blick zu. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und sah ein bißchen grün um die Nase aus. Ich wußte, was er dachte. Das Gefängnis war gar nichts verglichen mit dem Zorn seines Vaters, falls der herausfand, daß Ingolf das Hirngespinst eines einfallsreichen Alchimisten war.
    Doch Sir Hubert hatte bereits Knechte mit einer Leiter herbeibefohlen, die das Trinkhorn von seinem Platz über einer Reihe verbeulter Schilder mit verschiedenen Lesarten des Wappens der de Vilers herunterholten. Die zerschlissenen und in Schlachten zerfetzten Wimpel auf der anderen Seite des großen Horns flatterten sacht in der Zugluft. »Gebt acht da oben!« rief Sir Hubert. »Es ist alt! Zerbrecht ihr es, schlage ich euch den Schädel ein!« Schließlich wurde das Riesenhorn auf den Tisch gelegt.
    »Seht nur, wie groß«, murmelte die Menge. »Heutzutage gibt es kein Horn, das sich damit vergleichen ließe.«
    »Wie könnt Ihr es zulassen, daß dieser Mensch liest?« sagte Gilbert zu dem Richter. »Seht Ihr denn seine Augen nicht? Er kann kaum noch sehen.«
    »Ich höre die Stimme der Jugend, die mich daran erinnert, daß mein Augenlicht mit dem Alter dahingeschwunden ist«, sprach der blinde Halvard der Weise mit hoher brüchiger Stimme. »Aber laßt Euch sagen: Je mehr mein Augenlicht schwindet, desto besser kann ich mit den Fingern sehen. Legt meine Hände auf die Runen.« Gilbert schüttelte entsetzt den Kopf.
    »Ah, ein Trinkhorn«, sagte der blinde Halvard. Ein Kinderspiel, wenn man wie er das ganze Horn befühlte. Guter Gott, dachte ich, er ist noch blinder, als er zugibt. Alsdann fuhr er mit den Fingern mehrmals über die erhabenen Linien am Rand des Horns.
    »Das hier

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