Die zehn besten Tage meines Lebens: Roman (German Edition)
hundertprozentig«, behauptete Onkel Morris.
»Ach, und woher?«, riefen Mom und Grandmom wie aus einem Munde.
»Jeder in der Kneipe um die Ecke weiß, dass sein Johannes seit der Prostataoperation vor ein paar Jahren nicht mehr so recht will!«, rief Onkel Morris. »Er jammert doch allen ständig die Ohren voll deswegen! Die Frauen, mit denen er fremdgegangen ist, können ein Lied davon singen!«
»Er betrügt Sylvie also doch! Ich wusste es!« Grandmom lachte.
»Früher vielleicht, aber das war einmal«, widersprachen Dad, Onkel Morris und Grandpop unisono.
Alles lachte draußen vor meinem Fenster, und ich kicherte im Bett vor mich hin.
Das war der letzte Abend, an dem wir alle vereint waren. Es war nur einer von vielen, aber genau deshalb wird er mir immer als einer der besten Tage meines Lebens in Erinnerung bleiben.
Denn danach wurden plötzlich alle krank.
Es begann damit, dass ich eines Tages von der Schule nach Hause kam und erfuhr, Grandpop liege »ein paar Tage« im Krankenhaus.
Aus Tagen wurden Wochen. Onkel Morris zog bei uns ein, um auf mich aufzupassen, weil meine Eltern ständig bei Grandpop waren. Ich durfte ihn nie besuchen. Ein biologisches Wunder wie ich muss von Spitälern und Kranken ferngehalten werden. Wochenlang sah ich nur noch Onkel Morris, wenn ich von der Schule kam.
Normalerweise zog Onkel Morris, wenn er mir das Frühstück machte, eine richtige Show ab. Er bereitete arme Ritter oder Pancakes für mich zu und spielte den französischen Kellner: »Mademoiselle Dorenfield, isch erlaube mir, Ihnen’eute Morgen ein Glas frisch gepressten Orangensaft zum Frühstück zu servieren.«
»Da ist ja Fruchtfleisch drin«, beschwerte ich mich dann mit gespielter Entrüstung und schob das Glas weg.
»Bitte entschuldigen Sie vielmals! Isch verspresche, es kommt nischt wieder vor.«
»Das will ich hoffen!«
Spätestens an dieser Stelle mussten wir beide lachen und fielen einander in die Arme.
Wenn er die Pfannkuchen beim Wenden in hohem Bogen durch die Luft segeln ließ, geriet ich immer völlig aus dem Häuschen, vor allem, wenn einer auf den Boden fiel und die Fünf-Sekunden-Regel zur Anwendung kam. (Die verunglückten Pancakes wurden zwar ohnehin entsorgt, selbst wenn Onkel Morris schnell genug war und sie binnen fünf Sekunden aufhob, aber der Countdown machte trotzdem unheimlich Spaß.)
Doch als Grandpop im Krankenhaus lag, stand Onkel Morris nicht der Sinn nach Scherzen. Er kam herein, stellte mir eine Schüssel Frühstücksflocken mit kalter Milch hin und ging wieder.
Endlich wurde Grandpop aus dem Krankenhaus entlassen, und ich durfte ihn besuchen. Er war ziemlich abgemagert, und Grandmom sorgte dafür, dass er das Bett hütete. Er umarmte mich, und ich wollte mich zu ihm aufs Bett setzen, aber nicht einmal das erlaubte sie. Sie schüttelte ihm nur ein ums andere Mal die Kissen auf und sagte zu allen: »Er muss sich erholen, lasst ihn in Ruhe.« Da bemerkte ich zum ersten Mal das Glyzerinpflaster. »Was ist das?«, fragte ich sie. »Hast du dir wehgetan?«
»Nein, das ist bloß eine Art Medizin«, erklärte sie. »Das brauche ich, um Grandpop pflegen zu können.«
Ich gewöhnte mich daran, zu nachtschlafender Zeit das Telefon klingeln zu hören, so sehr, dass ich manchmal gar nicht richtig aufwachte, sondern einfach weiterschlief. Doch meistens schreckte ich auf. Wenn dann Licht aus dem Schlafzimmer meiner Eltern in mein Zimmer drang und ich hörte, wie sie sich anzogen, stand ich auf und ging zur Tür.
»Geht es Grandpop gut?«
»Ja, ja, Schätzchen. Geh wieder ins Bett. Onkel Morris ist da, falls du ihn brauchst.«
Also trollte ich mich wieder.
Ich erfuhr erst Jahre später von meinen Eltern, dass sie Grandpop immer wieder wegen erhöhter Temperatur oder akuter Atemnot ins Krankenhaus bringen hatten müssen.
So ging das ungefähr sechs Monate.
Grandmom sah ich kaum noch. Eines Tages verlangte ich, sie zu sehen, also brachten mich meine Eltern zu ihr. Sie lag im Bett, mit ihrem Pflaster auf dem Arm, und ich durfte mich zu ihr legen.
»Was für schöne Zähne du hast!«, lobte sie mich. »Versprich mir, dass du sie immer gut pflegen wirst, damit du nie so ein verfluchtes künstliches Gebiss brauchst.«
»Mom!«, rief meine Mutter entsetzt, weil Grandmom vor dem biologischen Wunder geflucht hatte.
Ich dachte mir nichts weiter dabei; weder die Ermahnung wegen meiner Zähne noch die Tatsache, dass Grandmom im Bett lag, alarmierte mich. Ich nahm an, sie wäre müde.
Ein
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