Die zehn besten Tage meines Lebens: Roman (German Edition)
paar Tage später geschah etwas höchst Seltsames.
Ich erwachte, weil wieder einmal mitten in der Nacht das Telefon klingelte. Das Licht im Schlafzimmer meiner Eltern ging an und schien in mein Zimmer.
Ich hörte, wie meine Mutter anfing zu weinen. Ich hörte, wie Onkel Morris den Flur entlangschlurfte zum Schlafzimmer meiner Eltern. Als auch er zu weinen begann, stieg ich aus dem Bett und ging zu ihnen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Schätzchen, komm her zu mir«, schluchzte Mom und klopfte neben sich auf das Bett.
»Es gibt sehr traurige Neuigkeiten. Grandmom ist jetzt im Himmel.«
»Grandpop, meinst du«, korrigierte ich sie.
»Nein, Schätzchen.« Sie musste sich schnäuzen, ehe sie fortfahren konnte. »Grandmom bekam heute Nachmittag plötzlich Herzschmerzen, und jetzt ist sie im Himmel.«
Das verstand ich nicht. Warum sollte Grandmom gestorben sein? Sie war nicht krank gewesen. Sie hatte auf Salz verzichtet und ihr Pflaster getragen.
»Aber sie war doch ganz gesund«, erwiderte ich verwirrt. Was zum Geier ging hier vor sich?
»Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst«, erklärte Dad ruhig. »Ältere Menschen können ganz unerwartet krank werden, und dann geht alles ganz schnell, so wie bei Grandmom.« Er hatte Tränen in den Augen.
Da brach auch ich in Tränen aus. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen. Bis heute weiß ich nicht, was mich mehr verstört hat, Großmutters Tod oder der Anblick meines völlig erschütterten Vaters.
»Und was ist mit Grandpop?«, wollte ich wissen. Ich witterte eine List. Vielleicht dachten sie ja, ich würde den Tod meiner Großmutter leichter verkraften als den meines Großvaters.
»Der ist noch im Krankenhaus«, hauchte meine Mutter.
Drei Tage später wurde Grandmom beerdigt. Grandpop konnte nicht dabei sein. Fünf Tage lang wimmelte es im Haus vor Trauergästen.
»Deine Großmutter war eine ganz großartige Frau«, sagten Carol und Richard zu mir.
»Ich kenne niemanden, der so lebendig wirkte wie deine Großmutter«, sagten Lou und Ruth Goldman zu mir.
»Deine Großmutter war so ein liebenswürdiger Mensch. Nie hat sie über andere hinter ihrem Rücken getratscht«, sagte Sylvia Gainsburgh. Ihr Mann Mort stand neben ihr.
Zwei Tage später waren alle weg. Dann kam ich von der Schule heim, und das Haus war wieder voll.
Mein Großvater war gestorben.
Meine Großeltern starben im Abstand von zwei Wochen. Manche Leute sagten, Grandmom sei schon mal vorgegangen, um die Dinnerreservierungen für Grandpop zu erledigen. Andere sagten, sie hätte das Haus für seine Ankunft vorbereiten müssen.
Kurz nachdem ich hier angekommen war, fragte ich Grandmom: »Was hast du zu Grandpop gesagt, als er in den Himmel kam?«
Grandpop kam ihr zuvor.
»Meine Güte, Harry, dass du mir keine fünf Minuten Ruhe gönnen kannst!«, äffte er ihre hohe, näselnde Stimme nach. Wir lachten herzlich darüber.
Nach dem Tod meiner Großeltern zog Onkel Morris in unser Gästezimmer, aber es wurde nicht mehr getanzt, und der aromatische Duft seiner Zigarre zog nicht länger durchs Haus. Es gab keine durch die Luft segelnden Pancakes mehr. Er saß die meiste Zeit in seinem Zimmer und sah fern. Wir hatten die Rollen getauscht. Jetzt kümmerte ich mich um ihn.
Ich brachte ihm mit Sirup getränkte Pfannkuchen. Ich vermisste den Geruch seiner Zigarren, also schnitt ich eine für ihn an. Er weinte, während er sie rauchte.
Wir sahen viel fern. Mir war egal, was lief. Ich glaube, ihm auch. Ich wollte bloß bei ihm sein. Seine besten Freunde waren gestorben, und er war zu traurig, um an irgendetwas anderes zu denken.
Einmal bat ich ihn, mit mir zu tanzen, aber er sagte: »Mir ist nicht danach«, und schloss die Tür.
Dann kam ich eines Tages von der Schule, und Matilda war in unser Leben getreten. Matilda war Onkel Morris’ Pflegerin und wurde später unsere Haushälterin.
»Was ist mit ihm?«, fragte ich meine Eltern.
»Er ist traurig«, erklärte meine Mutter. »Er braucht Hilfe.«
Onkel Morris hielt es ganze sechs Monate ohne meine Großeltern aus. Er starb im Schlaf, an einem Schlaganfall. Es war an einem Samstagmorgen, und ich lag noch im Bett und guckte ausgerechnet Mildred Pierce – So lange ein Herz schlägt , als meine Mutter ihn fand. Sie befahl mir, in meinem Zimmer zu bleiben. Ich wollte es auch gar nicht verlassen. Drüben im Gästezimmer lag der tote Onkel Morris. Es dauerte Jahre, bis ich das Gästezimmer wieder betrat.
Ich lauschte dem Gemurmel
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