Die zehn besten Tage meines Lebens: Roman (German Edition)
unbedeutender Immobilienhändler auf und säuselte: »Mister Dorenfield, wir haben erst neulich wieder von Ihrem Spruce-Street-Projekt gesprochen.«
So lief das immer. Ich hörte alles, ignorierte den ganzen Zirkus jedoch geflissentlich. Ich löffelte meine Suppe und unterhielt mich mit Pen. Gelegentlich fiel auch eine Bemerkung über mich. »Nun seht euch das hübsche kleine Ding an, ganz die Mama«, sagte Ruth Goldman. Ich grinste Pen verlegen an und aß weiter.
»Ich melde mich am Montag wegen dieses Vorschlags«, versprach der Immobilienmensch in dem Versuch, mit meinem Dad ins Geschäft zu kommen.
»Wir treffen uns nächste Woche zum Lunch«, sagte Carol zu meiner Großmutter.
Ein typischer Restaurantbesuch mit meiner Familie.
Nach dem Essen kam dann das Highlight. Für alle, die das Musical Annie nicht kennen, hier eine kurze Inhaltsangabe: Annie basiert auf einem Comic namens Little Orphan Annie und handelt von einem Mädchen im Waisenhaus, das auserwählt wird, um einem alleinstehenden Millionär namens Daddy Warbucks über Weihnachten Gesellschaft zu leisten. (Man fragt sich zu Recht: Aus welchem Grund sollte ein erwachsener Mann die Weihnachtsfeiertage wohl ausgerechnet mit einem kleinen Mädchen verbringen wollen? Aber ich schweife ab) Daddy Warbucks schließt Annie ins Herz (völlig unvorhersehbare Wendung natürlich … aber ich schweife schon wieder ab) und möchte sie adoptieren, obwohl sie darauf hofft, dass doch noch ihre richtigen Eltern auftauchen werden. Auftritt Miss Hannigan (die Leiterin des Waisenhauses), die aus reinem Neid verhindern will, dass Annie von einem Millionär adoptiert wird. Sie und ihr Bruder geben sich als Annies richtige Eltern aus, um das Mädchen ins Waisenhaus zurückzuholen. Doch wie alle großartigen Geschichten hat auch diese ein Happy End: Die Betrüger werden entlarvt, Annie wird von Daddy Warbucks adoptiert, am Schluss herrscht also eitel Sonnenschein.
Als das Musical auf dem Broadway aufgeführt wurde, packte ausnahmslos alle Mädchen in meinem Alter das Annie -Fieber. Jedes wollte unbedingt die nächste Annie geben. Dana Stanbury und Kerry Collins nahmen Gesangsunterricht, und als die Talentscouts ausschwärmten, strömten von überallher Möchtegern-Musical-Stars herbei, um ihre Version von »Tomorrow« zum Besten zu geben. Ich wusste, dass ich im Gegensatz zu Dana und Kerry und Olivia keine Singstimme habe. Meine Großeltern forderten mich auf, ihnen etwas vorzusingen, aber ich weigerte mich standhaft. Nur einmal habe ich Penelope den Song vorgesungen, als wir allein waren.
»Du hast die scheußlichste Stimme, die ich je gehört habe«, stellte sie fest, und dann lachten wir beide. Pen war die Einzige, die mir so etwas schonungslos ins Gesicht sagte.
Trotzdem liebte ich das Musical. Ich liebte die Geschichte über das kleine Waisenmädchen, dem plötzlich alles in den Schoß fiel. Damals war mir das nicht klar, aber heute weiß ich: Ich war das Mädchen, zu dem Annie im Laufe des Stückes wurde.
Wir hatten eine eigene Loge gemietet, Grandmom hatte Cashews hereingeschmuggelt (au naturel, natürlich), und wir vergossen beide Tränen, als Annie gezwungen wurde, ins Waisenhaus zurückzukehren.
Es war eine unvergessliche Show. (Nur aus reiner Neugierde: Werden hier oben eigentlich Musicals aufgeführt? Bestimmt. Ich würde Annie nur zu gern wieder einmal sehen. Das letzte Mal ist Jahre her.)
Nach der Aufführung brachten wir Penelope nach Hause, und dann gab es bei uns daheim auf der Terrasse Eis (Schoko-Minz von 31 Flavours, meine Lieblingssorte). Es war ein herrlich lauer Abend. Ich saß zwischen Grandmom und Grandpop, hörte die Grillen zirpen, sah die Glühwürmchen fliegen und lauschte den Erwachsenen, die über Ruth und Lou Goldman und Richard und Carol tratschten, und darüber, wer eigentlich dieser schleimige Kerl gewesen war, der sich vorhin bei Dad angebiedert hatte. Irgendwann hieß es für mich ab in die Kiste, also putzte ich mir die Zähne und begab mich in mein rosa Schlafzimmer mit meinem rosa Himmelbett, den Puppen aus aller Herren Länder und meinem Plüsch-Snoopy, ohne den ich nie ins Bett ging.
Während ich allmählich einschlummerte, hörte ich draußen (wie schon unzählige Male zuvor) meine Familie lachen und diskutieren.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Mort Gainsburgh seine Frau nicht betrügt, Evelyn?«, ereiferte sich mein Dad.
»Dem steht er doch gar nicht mehr, weder bei Sylvia noch bei sonst wem, das weiß ich
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