Die zehn besten Tage meines Lebens: Roman (German Edition)
meiner Eltern vor meiner Tür. Ich hörte, wie jemand an der Tür klingelte und Onkel Morris abholte.
Nach seiner Bestattung kam eine Handvoll Freunde und Bekannte von ihm vorbei, aber es gab keine so große Trauerfeier mehr wie für meine Großeltern. Wir hatten von Beerdigungen und Trauerfeiern endgültig genug.
Danach hätte man in unserem Haus eine Stecknadel fallen hören können. Mom wollte nicht telefonieren. Ich sagte allen Anrufern, sie sei »unpässlich«, wie man es mir aufgetragen hatte, obwohl ich gar nicht wusste, was »unpässlich« bedeutet.
Auf dem Linoleumboden in der Küche wurde nicht mehr getanzt. Es wurden keine Super-8-Filme mehr gedreht. Als ich meine Mutter eines Tages bat, mir Pflaumensaft zu kaufen, sah sie mich schief an. Samstags passten jetzt Babysitter auf mich auf, die allesamt nicht Bridge spielen wollten. Ich habe es total verlernt.
Eine Zeit lang fragte ich mich, ob ich meine verstorbenen Verwandten in meiner Erinnerung idealisierte. Ich versuchte, mir ihre negativen Seiten bewusst vor Augen zu führen. Grandmom hatte einem echt auf die Nerven gehen können mit ihrer quäkenden Stimme und ihrem Tonfall, der jede ihrer Aussagen wie eine Frage oder einen Befehl hatte klingen lassen. Mein Großvater war ein ruhiger Mann (er ist es immer noch). Vielleicht hatte ihn meine Großmutter ja bloß nie zu Wort kommen lassen? Vielleicht war er ja richtig gesprächig gewesen, ehe er sie kennengelernt hatte. Nein, er war (ist) eben ein sehr ausgeglichener Mensch, der Tag für Tag seine Arbeit als Buchhalter getan hat, um sich und seiner Familie die Brötchen (und die Tanzschuhe) zu verdienen. Vielleicht war es ja eigenartig, dass Onkel Morris nie geheiratet hat, dass er noch nicht einmal längere Zeit eine feste Freundin gehabt und stets neben meinen Großeltern gewohnt hat. Trotzdem konnte von Idealisieren keine Rede sein, und das wusste ich auch. Sie waren drei der großartigsten (wenn nicht gar die großartigsten) Menschen gewesen, die ich gekannt hatte. Das sind sie noch immer. All ihren körperlichen Schwächen zum Trotz verstanden sie es, ihr Leben zu genießen, und jetzt, wo wir wieder vereint sind, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ihr Tod dieser Fähigkeit keinen Abbruch getan hat. Im Gegenteil.
Jetzt wissen Sie also, weshalb ich diesen letzten Abend mit meiner ganzen Familie zum dritten besten Tag meines Lebens auserkoren habe. Jetzt wissen Sie, warum ich Schnapperfischsuppe und das Musical Annie liebe.
Es war der letzte Abend, an dem ich zwei Mütter und drei Väter hatte. Der letzte Abend, an dem wir alle durcheinandergeredet haben. Der letzte Abend, an dem in unserem Haus getanzt und gelacht wurde, ehe die Stille einkehrte.
Und mein letzter Auftritt als biologisches Wunder.
Ein himmlisches Vergnügen
»Grandmom?«, schniefe ich, als sie abnimmt.
»Al? Was ist los?«, fragt sie alarmiert.
»Was ist los?«, höre ich Grandpop im Hintergrund fragen. So läuft das seit jeher, wenn ich mit meinen Großeltern telefoniere. Grandmom muss alles für ihn wiederholen. Ich habe keine Ahnung, warum er nicht einfach an den anderen Apparat geht. Aber ich habe mich daran gewöhnt.
»Nichts, ich wollte bloß eure Stimmen hören.«
»Al, ich mache mir deinetwegen Sorgen. Dieser Aufsatz ist einfach zu viel für dich. Soll Grandpop rüberkommen und dir helfen, ihn zu schreiben? Er konnte sich schriftlich schon immer gut ausdrücken.«
»Ich mache mich sofort auf die Socken«, höre ich ihn sagen.
»Nein, nicht nötig. Ich wollte nur kurz eure Stimmen hören. Ich habe eben den dritten Teil fertig geschrieben, den über euren Tod, und das hat mich ziemlich mitgenommen.«
»Wie, und das gehört zu den besten Tagen deines Lebens?« Grandmom erhebt empört die Stimme.
»Was sagt sie?«, höre ich Grandpop im Hintergrund fragen.
»Sie zählt unsere Todestage zu den zehn besten Tagen ihres Lebens!«
»Das stimmt nicht!« Ich muss es dreimal wiederholen, bis sie es endlich registriert hat. »Es ging mir nicht um euren Tod, sondern um den letzten schönen Abend mit euch allen.«
»Oh«, sagt sie, und zu Grandpop gewandt: »Unser Tod gehört offenbar doch nicht zu den besten Tagen ihres Lebens. Mein Fehler.«
»Oh«, höre ich auch ihn sagen.
»Grandmom?«
»Ja, Schätzchen?«
»Kann ich morgen Abend rüberkommen? Und können wir dann alle miteinander Bridge spielen?«
»Aber natürlich. Ich hoffe nur, Onkel Morris hat Zeit. Oder wie wär’s, wenn du stattdessen Adam
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