Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
Vom Netzwerk:
die Welt wandelte sich so schnell, dass Lilith erschrocken aufschrie und ihr Schrei über den Himmel hallte. Knapp über ihren Köpfen rauschte eine Wolkendecke, die an Ströme von Blut erinnerte. In chaotischen Windungen und Strudeln floss das Blut mit unheimlicher Geschwindigkeit und allen physikalischen Gesetzen trotzend kopfüber das Firmament entlang – einem fernen Ort am Horizont entgegen, der das Ende der Welt und der gesamten Schöpfung sein musste. Die felsige Landschaft unter ihnen wurde durch den grausigen Himmel in ein dunkelrotes Licht getaucht. Sie wirkte ebenso menschenleer, wie der vergangene Höllenkreis. Allein die kleinen verlassenen Siedlungen, in denen noch immer vereinzelt Feuer brannten, verrieten, dass dieser Landstrich eigentlich bewohnt war. Hin und wieder wanden sich kleine Flüsse durch die karge Landschaft, die ebenso wie der Himmel in dunklem Rot schimmerten. Weder Raphael noch Lilith hätte es verwundert, wenn auch diese Gewässer aus Blut bestanden hätten.
    Erneut wimmerte Lilith auf.
    „Was hast du?“, fragte Raphael.
    „Dieser Himmel… können wir nicht ein wenig tiefer fliegen? Er macht mir Angst!“
    Raphael blickte Lilith verwirrt an. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass Lilith vor irgendetwas Angst haben könnte. Doch er folgte ihrer Bitte und ließ sich tiefer fallen. Lilith folgte ihm unmittelbar und hielt sich noch einmal zwei bis drei Meter unter ihm. Nun glitten sie im Tiefflug über die widerwärtige Landschaft, doch an diesem Ort schien es, als sei der Himmel allgegenwärtig, als könne man ihm niemals entfliehen.
    Immer öfter sahen sie nun Hinterlassenschaften der Bewohner oder der Akoloythoi, die an diesem Ort dem Bösen dienten. Auf einigen Bergrücken standen finstere Burgen mit mächtigen Mauern, aus deren blinden Fenstern ganze Bäche von Blut strömten. Tatsächlich schien Blut das elementare Thema dieses Höllenkreises zu sein und Lilith zitterte bei diesem Anblick am ganzen Leib. Am Wegesrand lagen vielerorts dutzende von Schädeln, abertausende gebleichte Knochen und merkwürdige Gerätschaften, denen man ansah, dass sie zu bösen Zwecken erbaut worden waren. Immer öfter sahen sie nun ganze Leichenberge gefallener Krieger, auf denen an einfachen Masten Wimpel im Winde knatterten. Hin und wieder erblickten sie ganze Reihen von Galgen, über denen schwarze Krähen kreisten und sich um die Überreste der Erhängten stritten. Von meterhohen Scheiterhaufen aus angeketteten und verkohlten Skeletten stieg schwarzer fettiger Rauch auf.
    „Grausamkeit!“, sagte Raphael schlicht, als Lilith ihn fragend und voll Furcht ansah. „Hier landen all jene, die zu Lebzeiten das Leben anderer so wenig geachtet haben, dass sie quälten und misshandelten. Dieser Höllenkreis und seine Bewohner sind wahrlich furchteinflößend und abstoßend!“
    Plötzlich ging ein Ruck durch ihn und wie von unsichtbaren Fäden gezogen, änderte er abrupt seine Flugrichtung nach links. Lilith zog ebenfalls nach links um ihn nicht zu verlieren und gemeinsam rasten sie nun mit großer Geschwindigkeit in geringer Höhe über die felsige Landschaft.
    „Dort vorn!“, rief Raphael im Flug zurück, doch Lilith konnte dort nichts erkennen, was seine Aufmerksamkeit erregt haben konnte.
    Mit einem lauten Knall spreizte Raphael sein Flügel und blieb mitten in der Luft stehen. Einen Augenblick hielt er rüttelnd seine Position, dann sank er sanft hinab auf den Boden. Lilith tat es ihm nach und blickte verwundert zu ihm auf.
    „Was hast du?“, fragte sie, doch Raphael wies stumm auf einen kleinen Hügel, der vor ihnen lag. An seinem Fuß wand sich ein schmaler Felsenpfad entlang, der wenige Meter weiter aus ihrem Sichtfeld verschwand. Langsam begann Raphael sich auf diesen Weg zuzubewegen. Kurz darauf hatten sie den Hügel umrundet und blieben erstaunt stehen.
    Und dort – inmitten blutverschmierter Felsen, grinsender Totenschädel und bleicher Knochen – lag das Paradies. Es war sehr klein, nur wenige Meter im Quadrat. Und dennoch war es an einem Ort wie diesen so ungewöhnlich und fremd, so vollkommen unpassend und zugleich doch wunderschön, dass Lilith Tränen in die Augen schossen. Es war ein Garten. Nicht von Menschenhand angelegt, nicht gepflegt oder von kundigem Geist erdacht und geplant. Nein, in diesem Garten wuchsen die Pflanzen frei und wild. Ihre Farben waren helle Farbtupfer inmitten einer Welt, die finster und trostlos war und in der es kein Leben hätte geben dürfen.

Weitere Kostenlose Bücher