Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
sind.“
„Was waren das für Menschen?“
Ibrahim zögerte. „Es waren Menschen unterschiedlicher Herkunft und Zeiten. Sie wurden von einer jungen Frau angeführt. Die anderen nannten sie Eleanor…“
Raphael ballte die Fäuste, während Lilith unsicher zu ihm hochblickte.
„Wo ist diese Gruppe abgeblieben?“, zischte er.
Ibrahim duckte sich unter diesen Worten und sah ängstlich zwischen Lilith und Raphael hin und her. „Ich weiß es nicht!“, jammerte er.
Mit einem einzigen Schritt war Raphael bei ihm und legte seine gewaltige Faust um Ibrahims Hals. Dann begann er langsam zuzudrücken.
„Gnade! Gnade!“, keuchte Ibrahim. „Es war in dieser Richtung!“
Er fuchtelte wild in jene Richtung, aus der er mit seiner kleinen Gruppe gekommen war.
„Du bist ein Lügner, Ibrahim!“, zischte Raphael. „Deshalb bist du in diesem Teil der Hölle gelandet. Menschenleben bedeuten dir nichts, du bist nur an dir selbst interessiert und du würdest zu deinem Vorteil jede Lüge erzählen. Du und deinesgleichen könnt die Hölle nicht verlassen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Akoloythoi euch wieder ergreifen. Aber wenn du mich jetzt gerade angelogen hast, werden nicht die Akoloythoi Jagd auf dich machen. Ich werde es sein, der dich zu fassen kriegt und dann wirst du dich in die kochenden Teergruben zurücksehnen, aus denen du geflohen bist!“
Unter diesen Worten strahlte Raphael ein tiefrotes Glühen aus, während er seine Flügel weit gespreizt hielt und fast die gesamte Höhle ausfüllte. Dann ließ er Ibrahim wie eine wertlose Lumpenpuppe fallen und schritt über ihn hinweg. Lilith folgte ihm, während sich der Rest der Menschengruppe so gut es eben ging furchtsam an die Felswand drückte.
Nur wenige Augenblicke später war das Leuchten der zwei Engel hinter der nächsten Tunnelbiegung verschwunden und die Menschen atmeten erleichtert auf.
„Ibrahim, was mag geschehen sein, dass die beiden uns nicht sofort zurück in die Gefangenschaft gebracht haben?“, fragte einer der Männer, während er auf den am Boden liegenden und schwer röchelnden Ibrahim hinüber huschte.
„Ich weiß es nicht!“, keuchte dieser, während er sich den schmerzenden Hals hielt. „Ich weiß nur, dass wir so schnell und weit wie möglich von hier fort müssen…“
Lilith indes amtete wie befreit durch, während sie nun – Stunden später – an Raphaels Seite stand und die bedrängende Enge des sechsten Höllenkreises hinter sich gelassen hatte. Es war gut gewesen, dass ihnen dieser Ibrahim über den Weg gelaufen war. So hatten sie sicher sein können, Eleanors Spur nicht verloren zu haben. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie sich auf dem Weg vor ihnen stetig weiter auf das Zentrum der Hölle zubewegte. Ebenso sicher war aber auch, dass sämtliche Akoloythoi und die gefallenen Engel sich auf den Weg gemacht hatten sie abzufangen. Die Frage war nur, welche Seite schneller sein würde.
„Was ist dort vorn?“, fragte sie Raphael und wies auf die geisterhaft schimmernden Ebenen jenseits des Flusses.
„Zwietracht. Dort leben all jene, die zu Lebzeiten ihre Mitmenschen in Verzweiflung getrieben haben. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Eleanor dort durchgekommen sein kann!“
„Warum?“
„Weil die Höllenkreise mit ihren Bestimmungen auf jene abfärben, die sich in ihnen bewegen. Wenn dieser Ibrahim recht hatte, dann hat Eleanor tatsächlich eine größere Menschengruppe bei sich. Dort drüben werden sie die Zwietracht am eigenen Leib erfahren und mit Sicherheit werden einige dabei auf der Strecke bleiben.“
„Großartig“, murmelte Lilith. „Die Lüge hinter uns und die Zwietracht vor uns.“
„Sei froh, dass wir zwei zumindest nicht fürchten müssen, an jenen Sünden zu scheitern, wenn wir diese Kreise durchqueren“, erwiderte Raphael. Dann breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Lilith folgte ihm und nach wenigen Flügelschlägen waren sie über dem Fluss. Schlagartig war die Welt in jenes schaurige Grün getaucht, das sie bereits vom sechsten Kreis aus hatten sehen können. Das elektrische Summen und Knistern erfüllte nun die Luft um sie herum, kroch unter ihre Haut und erfüllte sie ganz und gar. Lilith glaubte sich noch nie zuvor so unwohl in ihrer Haut gefühlt zu haben. Jetzt verstand sie, wie diese Welt auf gewöhnliche Menschen wirken musste. Wer nicht wie sie über die Kräfte eines Engels verfügte, musste unweigerlich aggressiv und streitsüchtig werden.
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