Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
oder dreihundertfünfzig Urnen. Warum fragst du?“
„Ihr könntet also bis zu dreihundertfünfzig Akoloythoi außer Gefecht setzen?“, fragte Michael, ohne auf Olivers Frage einzugehen.
„Vielleicht etwas weniger“, antwortete Oliver unsicher. „Man trifft ja nicht unbedingt jedes Mal. Solche Aktionen sind für die Befreier überaus nervenaufreibend. Vor Aufregung geht gern mal etwas schief. Außerdem sind vermutlich nur die Akoloythoi betroffen. Wie das Wasser auf die gefallenen Engel wirkt, wissen wir nicht.“
Michael legte nachdenklich die Hand vor den Mund. „Aber dreihundert wären realistisch?“, hakte er nach.
„Woran denkst du?“, fragte Elizabeth, während Oliver nickte.
Einen Augenblick lang zögerte Michael. „Nun“, begann er, „Ich habe mich gefragt, wie die Chancen wären, wenn jemand tatsächlich versuchen würde, gegen die Akoloythoi zu kämpfen. Was, wenn jemand versuchen würde, aus diesem System auszubrechen?“
Oliver winkte ab. „Auf lange Sicht ist das unmöglich. Wie gesagt – die Engel wären wohl nicht davon betroffen. Außerdem gibt es sicher Millionen Akoloythoi in der Hölle und es können jederzeit Neue erschaffen werden.“
Michael zögerte und nickte nachdenklich. „Aber was, wenn es sich um eine einzelne Aktion mit einem eng begrenzten Ziel handeln würde und die Gegenseite keine Zeit für Gegenmaßnahmen hätte?“
Oliver erstarrte und sah ihn mit einem ernsten Stirnrunzeln an.
„Woran hattest du gedacht?“
…
Lilith stand neben Raphael und überblickte die Ebene vor ihnen. Auf der anderen Seite des Flusses war die Landschaft in ein geisterhaft grünes Licht getaucht und nur wenige felsige Konturen waren zu erahnen. Hinter ihnen erhob sich unnatürlich steil die gewaltige Felswand, unter der sich der sechste Höllenkreis befand. Obwohl es sicher mehr als ein halber Kilometer bis über den Fluss war, konnten sie das aggressive Summen und Zischen des fünften Kreises bis hierher hören.
„Ein böser Ort“, flüsterte Lilith.
Raphael sah sie fragend an. Welchen Ort hatte sie gemeint? Jenen der vor ihnen lag oder jenen der nun hinter ihnen war?
Immerhin – auch im sechsten Kreis der Hölle hatten sie Eleanors Fährte aufnehmen und folgen können. Nachdem sie die Spinnenhöhle hinter sich gelassen und die Seelenlichter der dort gefangenen Sünder tiefer in die unterirdische Felsenwelt hineingetragen hatten, waren sie zunächst planlos weitermarschiert. Es war für beide eine ungewohnte Belastung gewesen, laufen zu müssen. Doch an diesem Ort war Fliegen nur an wenige Stellen möglich. Die engen, gewundenen Gänge und Stollen erlaubten nicht einmal, die Flügel voll auszubreiten und nur selten kamen sie durch Felshallen, die gewaltig genug waren, um einige hundert Meter fliegen zu können.
So hatte es eine ungewöhnlich lange Zeit gebraucht, bis sie beim Durchqueren einer langgestreckten Höhle plötzlich menschliche Stimmen hörten. Sie waren beide stehengeblieben und hatten wortlos gelauscht. Es musste sich um eine Gruppe von vielleicht einem halben Dutzend Menschen handeln, die sich auf sie zubewegte. Sie gaben sich zwar Mühe nicht allzu laut zu sein, doch war offensichtlich, dass sie sich stritten und ihre Stimmen daher weiter hallten, als sie es beabsichtigten.
Und dann waren sie plötzlich um einen gewaltigen Felskegel gebogen und standen nun nur noch wenige Meter vor zwei Engeln, die sie ruhig erwartet hatten. Die Menschen blieben erschrocken stehen, einige fielen sofort auf die Knie und hoben bittend, ja flehend die Hände empor.
„Wer seid ihr?“, hatte Raphael jenen angesprochen, welcher der Anführer zu sein schien.
„Mein Name ist Ibrahim!“, hatte dieser gekrächzt.
„Was macht ihr hier, Ibrahim?“
„Wir… wir sind…“
„Gib dir keine Mühe. Ihr seid auf der Flucht, denn ihr gehört nicht hierher. Ihr habt den Ort eurer Strafe verlassen.“
Ibrahim hatte wortlos genickt. Jetzt wagte er nicht länger, den Engel vor sich anzusehen.
„Wie kommt es, dass ihr euch außerhalb des euch zugewiesenen Ortes aufhaltet?“, fragte Lilith streng. „Wo sind die Akoloythoi, die über euch gewacht haben?“
Ibrahim gab ein winselndes Geräusch von sich. „Sie sind fort“, wimmerte er. „Sie sind alle fort. Wir glauben, dass sie die Fährte der anderen Gruppe aufgenommen haben und nun auf der Jagd sind…“
„Die andere Gruppe? Wovon sprichst du?“
„Nun… jene Gruppe, der wir kurz nach unserer Flucht begegnet
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