Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Elizabeth haften.
„Aber die beiden Menschen, die wider ihren Tod hier sind, sollten nicht mitkommen. Es würde zu gefährlich für sie sein…“
„Zu gefährlich?“, schnappte Michael zurück. „Wir stehen mitten in der Hölle und wir sind aus eigener Kraft bis hierhergekommen! Was könnte es noch geben, womit wir nicht klarkommen würden?“
Trotzig legte er seine Hand auf Elizabeths Schulter und endlich wandte Gabriel sich ihm ganz zu.
„Was verstehst du von der Hölle, Mensch?“, fragte er verächtlich. „Der Ort, an den Eleanor gehen soll, ist so gefährlich, dass nicht einmal ich ihn betreten will. Und der einzige Mensch, der eine geringe Chance hat, ihn wieder zu verlassen, ist allein Eleanor. Du tätest gut daran, jetzt in Würde wieder in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Du hast alles getan, was dir möglich war, aber hier ist dein Weg vorerst zu Ende!“
Michael ballte vor Wut die Fäuste. Er wollte etwas erwidern, doch Eleanor kam ihm zuvor.
„Er hat recht!“, sagte sie leise und berührte ihn dabei sanft an der Schulter. „Es wäre zu gefährlich… vor allem für dich, Michael. Du bist der einzige von uns, der dem Leben noch näher steht als dem Tod. Du kannst dort nicht hin.“
„Aber Eleanor“, wandte Michael aufgewühlt ein. „Ich bin nur deinetwegen hier. Nur deinetwegen! Und jetzt willst du mich wieder fortschicken?“
Er blickte zornig zu Raphael hinüber, doch Eleanor zog sein Gesicht sanft zu sich zurück und zwang ihn, sie anzusehen.
„Es hat nichts mit ihm zu tun!“, sagte sie beschwörend, ohne zu Raphael zu sehen. „Es geht allein um dich. Ich… ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas geschähe. Es ist schlimm genug, dass ich gehen muss. Aber du sollst es nicht!“
Michael sah sie stumm an. Und in diesem Augenblick lag so viel Sorge und Schmerz in Eleanors Blick, dass er endlich zu verstehen begann. Sie liebte ihn – daran konnte es keinen Zweifel geben. Vielleicht fühlte sie sich stärker zu Raphael hingezogen als zu ihm, aber das lag nicht an ihm selbst, sondern allein an Raphaels himmlischem Feuer, jener Kraft, zu der sich jedes Lebewesen vom Augenblick seiner Geburt an sehnt. Plötzlich schien alles um Michael herum zu verblassen. Die Hölle, die Engel, Raphael, waren auf einmal vollkommen unwichtig und nicht länger Teil dessen, was jetzt zählte. Allein Eleanor vor ihm war der Mittelpunkt der Welt und nicht für alle Schätze der Welt hätte er diesen Moment hergeben wollen. Es war ihm egal, ob die zehn Kreise der Hölle oder eine Armee von Engeln zwischen ihnen beiden standen. Bis zum Ende seiner Tage würde er für dieses Mädchen da sein, dessen war er sich zum ersten Mal sicher, seit jenem verhängnisvollen Tag, da er Eleanor im Sanatorium von Stratton Hall zurückgelassen hatte und nie hatte wiederkommen wollen.
„Ich werde gehen“, flüsterte er. „Aber nur wenn du versprichst, dass du zurückkommst.“
Eleanor schloss die Augen und nickte heftig. Sie war den Tränen nah bei dem Gedanken, Michael nicht mehr an ihrer Seite haben zu können. Doch in diesem Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihren. Ohne nachzudenken gab sie dem Kuss nach, lang und doch bei weitem nicht lang genug. Erst als Michael sich von ihr löste, öffnete sie die Augen wieder und sah ihn vor sich stehen. Er lächelte und hob noch ein letztes Mal wortlos die Hand. Dann begann er zu verblassen und auch Elizabeths Konturen an seiner Seite verschwammen mehr und mehr, bis sie beide verschwunden waren.
Eine Weile sagte keiner ein Wort. Dann erklang Gabriels Stimme und sie klang merkwürdig leise zu Eleanor hinüber.
„Wir sollten gehen.“
Der zweite Kreis – Die gottlose Welt
Raphael wusste nicht was es war. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Vielleicht war es der Kuss gewesen, den Eleanor und Michael getauscht hatten. Er hatte es gesehen und doch hatte es in ihm nicht das ausgelöst, was er befürchtet hatte. Er wusste aus Erfahrung, dass Menschen oft mit Eifersucht reagierten, wenn ein geliebter Mensch die Liebe eines anderen auf sich zog. Aber Raphael war beim Anblick der beiden nicht eifersüchtig gewesen. Stattdessen war ein ungewohntes Gefühl von Freude durch ihn gefahren. Ja, er hatte sich für Eleanor gefreut, ohne Hintergedanken, ohne den geringsten Ansatz von Missgunst oder Neid.
Merkwürdig – wie konnte das sein? Empfanden Engel keine Eifersucht? Oder lag es daran, dass er im Grunde seines Herzens Eleanor gar nicht wirklich liebte?
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