Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
die Menschen in der Vorhölle oder den äußeren Kreisen der Hölle. Würden sie nach ihrem Tod mit dem Göttlichen Feuer konfrontiert, würden sie sie unfassbare Qualen erleiden, wenn ihre Sünden aus ihnen heraus gebrannt würden. Stattdessen zeigt Gott sich ihnen so lange nicht, bis sie ihre Seelen geheilt haben und vor sein Angesicht treten können. Genau so ist es mit den Mitgliedern der Kirche der Verlorenen geschehen und erst am Tag des Jüngsten Gerichts ist der Stichtag, von dem an ihre Seelen erneut bewertet werden. Aber die Menschen unter uns im zweiten Kreis der Hölle sind von anderer Art. In ihnen ist nichts Gutes zurückgeblieben. Da ist nichts mehr, was heilen könnte und so ist Gott ihnen bereits im Augenblick ihres Todes erschienen. Sie sind vor seinem Göttlichen Feuer hierher geflohen und verbergen sich in der Dunkelheit in der törichten Hoffnung auf Vergessen und Vergebung.
„Töricht? Ist Hoffnung denn töricht?“
„In ihrem Falle schon. Sieh dort hin!“
Raphael wies nach vorn, wo sich in der Dunkelheit etwas Unfassbares abspielte. Die Abertausenden von Seelenlichter, die wie ein funkelndes Sternenmeer unter ihnen blinkten und schillerten, wurden dort in einen gewaltigen Strudel hinab gezogen, aus dem es kein Entrinnen gab. Langsam und doch unausweichlich zog eine gewaltige Kraft sie in eine riesige kreisförmige Bahn, drängte sie in einen immer schneller werdenden Sog und verschluckte sie schließlich in ein Zentrum absoluter Finsternis. Eleanor schluckte. Sie war sich sicher, so etwas schon einmal gesehen zu haben. Genau so sahen die Illustrationen schwarzer Löcher aus, die sie im vergangenen Jahr im Physikunterricht in der Schule gesehen hatte. Eine monströse Kraft, für die die Gesetze der Natur nicht zu gelten schienen und denen nichts entweichen konnte. Nicht einmal das Licht.
Sie kamen jetzt näher an den riesigen Sternenstrudel heran und nun konnte Eleanor auch ein Geräusch hören, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein angsterfülltes Schreien und Kreischen von unendlich vielen Seelen, die hinab gesogen wurden und sich zu einem hohen Rauschen in Raum und Zeit vereinigten. Grauenvoll und furchteinflößend. Unwillkürlich klammerte Eleanor sich fester an Raphael. Sie musste an das Seelenloch im sechsten Höllenkreis denken. Ob es sich irgendwo über ihnen befand, so dass die Verdammten von dort hier hinab fielen?
„Wir bekommen Probleme!“, flüsterte Raphael in diesem Moment und sein Blick wurde starr. Eleanor folgte seinem Blick und sah in einiger Entfernung unmittelbar über dem schwarzen Loch eine lange Kette gleißender Lichter, die offenbar vollkommen ruhig dort verharrte und nicht vom Sog des schwarzen Lochs beeinflusst wurde. Raphael und Lilith hielten unter Gabriels Führung auf die Erscheinung zu, doch es dauerte einige Minuten, bis Eleanor erkennen konnte, womit sie es zu tun hatten. Es war Asrael, der in Begleitung mehrerer hundert gefallener Engel seelenruhig auf die Neuankömmlinge wartete.
Als sie ihn endlich erreicht hatten, senkte er vor Gabriel leicht den Kopf. Eleanor hatte alle Mühe sich auf ihn zu konzentrieren, denn direkt unter ihr gähnte das schwarze Loch, das unablässig Millionen von Seelen aufsaugte. Plötzlich überkam sie ein starkes Gefühl von Höhenangst und sie musste sich zwingen, den Blick von dem gewaltigen Strudel unter sich abzuwenden. Das Schreien der Verdammten drang an dieser Stelle nur allzu deutlich zu ihnen herauf, doch die Engel beachteten es gar nicht.
„Gabriel! Was führt dich hierher?“, fragte Asrael misstrauisch. Er konnte den lauernden Ton in seiner Stimme nicht gänzlich verbergen und auch Gabriel war dies nicht entgangen.
„Wir sind auf dem Weg in das Zentrum der Hölle“, erwiderte er. „Jeshua von Nazareth hat uns gesandt!“
„Jeshua sagst du? Was mag Jeshua dort…“
Asraels Stimme brach ab und verunsichert blickte er zwischen Gabriel und Eleanor hin und her.
„Du weißt doch, wer dort ist?“, fragte Gabriel leise. „An jenem Ort, an den wir nicht gehen können?“
Noch immer flackerte Asraels Blick zwischen dem Erzengel und dem Menschenmädchen hin und her. Dann begann sich ein Ausdruck des Verstehens über sein Gesicht zu ziehen. Er lächelte fein und gab mit einer fast spöttischen Bewegung den Weg frei.
„Verzeiht, dass ich euch aufgehalten habe“, sagte er. „Ich wünsche euch viel Erfolg für eure Mission.“
„Asrael, was ist hier los?“, erklang eine aufgebrachte Stimme
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