Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Nein, das konnte nicht sein. An seiner Liebe zu ihr konnte er nicht zweifeln, viel zu sehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Aber vielleicht liebte er sie nicht wie Menschen es tun, die nicht nur lieben, sondern auch begehren. Wenn er darüber nachdachte, so traf dies viel mehr auf seine Gefühle zu Lilith zu. Ein Teil von ihm begehrte sie, dessen war er sich sicher. Doch wie stark dieser Teil von ihm war, wusste er nicht. Ob dieser Teil wohl stark genug wäre, um das brennende Gefühl von Eifersucht in ihm zu entfachen?
Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab, während er sich aus diesen finsteren Gedanken riss. Er blickte nach rechts, wo Lilith in einigen Metern Abstand zu ihm durch die Dunkelheit flog. Sie trug William in ihren Armen, während Raphael Eleanors Kopf an seiner Brust spürte. Vor ihnen glitt Gabriel geräuschlos durch eine Dunkelheit, die von Minute zu Minute allumfassender und bedrückender wurde.
„Wo sind wir hier?“, hörte Raphael Eleanors Stimme an seinem Ohr flüstern.
„Wir nähern uns dem zweiten Kreis der Hölle“, gab dieser ebenso leise zurück. Selbst er schien sich an diesem Ort nicht wohl zu fühlen, seine sonst so übliche Selbstsicherheit hatte einer gedrückten Wachsamkeit Platz gemacht und immer wieder suchten seine Blicke die Finsternis zu durchdringen.
Die Zeit zog sich endlos dahin und Eleanor begann sich zu fragen, ob sie sich überhaupt bewegten. Die Dunkelheit war so vollkommen, dass durch nichts der Eindruck von Bewegung entstehen konnte. Nirgendwo gab es Hinweise auf sichtbare Strukturen, an keiner Stelle konnte das Auge haften bleiben. Die Schöpfung schien gar nicht bis an diesen Ort gelangt zu sein, denn nicht nur jede Form von Materie fehlte hier, selbst das Licht schien diesen Ort zu meiden. Allein das Leuchten der drei Engel gab Eleanor das Gefühl nicht vollkommen erblindet zu sein. So war sie sich zunächst auch nicht sicher, ob ihre Augen sie trogen, als sie schließlich doch etwas zu erkennen glaubte.
„Fliegen wir kopfüber?“, fragte sie verwirrt, während sie nach unten zeigte.
Raphael folgte ihrer Geste und sah Abertausende kleiner Lichter unter sich, die wie die Sterne des nächtlichen Himmels zu ihnen hinauf leuchteten. Über ihnen hingegen herrschte nach wie vor völlige Finsternis.
„Das ist nicht der Sternenhimmel“, erwiderte er seltsam gedrückt. „Es sind die Seelen all jener, die Gott bewusst entsagt haben um sündigen zu können. Sie sind dazu verdammt, in ewiger Dunkelheit zu leben, ohne Licht, ohne Hoffnung und ohne die Aussicht auf Erlösung. All diese Menschen kannten Gott. Sie waren sich seiner bewusst, haben ihn nicht angezweifelt und entschieden sich dennoch gegen ihn.“
„Was wird mit ihnen geschehen?“
Raphael zögerte einen Augenblick. „Sie haben jede Chance auf Erlösung bewusst hergegeben. Zu Lebzeiten hatten sie Macht, Reichtum und ein gutes Leben und all das erkauften sie sich mit ihrer Seele. Ein hoher Preis. Jetzt befinden sie sich an einem Ort, von dem aus keine ihrer Taten rückgängig gemacht werden kann. Selbst am Tag des Jüngsten Gerichts werden sie nicht auf Erlösung hoffen können, denn in ihren Seelen ist nichts zurückgeblieben, was vor Gott bestehen kann.“
„Wie kann das sein?“
„Du hast das Licht Gottes doch gesehen“, erwiderte Raphael. „Dir kam es sanft, warm und freundlich vor. Alles in dir wollte in dieses Licht gehen und mit ihm eins werden. Aber für einen Sünder ist dieses Licht etwas ganz anderes. Für ihn ist es heiß, brennend und gefährlich, denn was immer an seiner Seele schlecht ist, wird vom göttlichen Feuer verbrannt werden. Und wenn an einer Seele einfach alles schlecht ist, so wird sie auch komplett im Angesicht Gottes verbrennen. Dann und erst dann ist der Mensch wirklich tot. Daher fliehen die Sünder in die Hölle, denn hier müssen sie das Licht Gottes nicht sehen. Auch hier müssen sie Schmerzen erleiden, die ihnen die Akoloythoi beibringen, aber zumindest ist ihr Leben nicht bedroht.“
„Das klingt beinahe, als sei die Flucht in die Hölle Teil eines Selbsterhaltungstriebs.“
Raphael lachte. Ein ungewohnter Laut in dieser Umgebung. „Ja, letzten Endes hast du recht!“
„Aber ich dachte immer, ein Sünder könnte das Licht Gottes einfach nicht sehen. Dass er vor ihm flieht, höre ich zum ersten Mal.“
„Für die meisten Sünder stimmt das auch. Aber es ist eine Gnade, die Gott jenen Menschen erweist, für die noch nicht alles verloren ist. Nimm
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