Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
verlassen. Sie wollte bei Raphael sein. Sie hatte immer gewusst, dass sie die Hölle nur an seiner Seite würde ertragen können. Ohne ihn würde es unmöglich sein. Innerhalb weniger Wochen würde sie so hoffnu ngslos traurig und verzagt sein wie die Dorfbewohner. Vater Erik hatte es da leichter. Sein Aufenthalt an diesem Ort würde nicht ewig währen. Eines Tages würde er zu Gott gelangen und er wusste das. Mit diesem Wissen im Hintergrund fiel es ihm leicht, die Zeit hier zu überstehen. Eleanor hatte diese Gewissheit nicht. An jenem Tag, als sie sich dazu entschlossen hatte, Raphael in der Hölle zu suchen, hatte sie alles auf eine Karte gesetzt. Wenn sie an dieser Aufgabe scheiterte, würde das ihr Ende sein. Mehr und mehr, vollkommen unaufhaltsam, würde sie so werden wie die Bewohner dieses Dorfes. Sie blickte zu Will hinüber, der mit großen, traurigen Augen hohlwangig und trübsinnig vor sich hinstarrte. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Ich kann nicht bleiben. Ich muss ihn finden und wenn ich in den innersten Kreis der Hölle gehen müsste um ihn zu sehen.“
Vater Erik senkte betrübt das Haupt. „Dann gnade dir Gott!“, sagte er schlicht.
Ein Unbehagen beschlich Eleanor. Unsicher blickte sie zur Tür hinüber.
„Wie spät mag es sein?“, fragte sie. „Sollte ich heute noch aufbrechen, oder erst morgen?“
Will lachte freudlos auf, doch es war erneut Vater Erik, der an seiner statt antwortete.
„In dieser Welt gibt es keine Zeit. Keinen Morgen oder Abend. Eine einzelne Minute in der Hölle mag ein Jahr oder ein Jahrtausend in der Welt der Lebenden sein – wir wissen es nicht. Denn nichts von dem was du hier siehst, gibt es wirklich. Wenn du stirbst kannst du nichts mitnehmen, allein deine Seele, das was dich ausmacht, kommt hierher. Und diese Seele baut sich hier ihre eigene Welt. Das was sie kennt und was sie im Innersten ausmacht. Die armen Menschen dieses Fischerdorfs leben hier in denselben Hütten, die sie schon als Lebende bewohnt haben, ebenso, wie ein Fürst oder Bischof hier den Palast vorfinden würde, der ihm zu Lebzeiten gehört hat. Hier treffen ihre Seelen auf all die Erinnerungen jener Sünden, die sie schließlich hierher gebracht haben und sie sind auf ewig in ihnen gefangen. Die Dorfbewohner hier müssen nur wenige Hundert Meter gehen und sie stehen an eben jener Küste, die das holländische Schiff hat zerschellen lassen. Dort können sie noch immer die Schreie der Sterbenden hören. Und so wird es bleiben, bis zu jenem fernen Tag, da ihnen ihre Sünden vergeben werden…“
„Ich weiß“, warf Eleanor ein. „Die Toten Paläste der gefallenen Engel sind genau dasselbe. Es sind die Orte, die ihre kranken Seelen erschaffen haben und in denen sie vor sich hinvegetieren oder ihre Zorn nähren, solange sie nicht in der Welt der Lebenden sind.“
Vater Erik nickte langsam. „Ich verstehe. Wenn das die Toten Paläste sind, von denen du sprichst, dann spricht vieles dafür, deinen Raphael tatsächlich hier in der Hölle zu suchen. Aber in welchem der Kreise er zu finden sein könnte, vermag ich dir nicht sagen. Das hängt vor allem davon ab, wie sehr seine Seele hier gefangen ist.“
Eleanor blickte verzagt zu Boden. „Er ist bei Lilith“, flüsterte sie wie zu sich selbst. „Und nach allem, was ich von Lilith weiß, wird ihr Toter Palast wohl direkt im Zentrum der Hölle stehen. Dort wo niemand sonst freiwillig hingehen würde.“
Wieder lief ihr eine einzelne Träne über die Wange, von wo sie hinab in den Staub zu ihren Füßen fiel.
Einen Augenblick lang war es ganz still. Dann war es Wills Stimme, die das Schweigen durchbrach.
„Du solltest nicht allein gehen“, sagte er. „Zumindest nicht den ganzen Weg.“
Eleanor blickte auf und sah ihn müde und verzweifelt an. „Wer würde denn schon mitkommen? Jeder von euch hat auch ohne mich schon genug Sorgen und Ängste. Hier im Dorf habt ihr wenigstens ein geringes Maß an Sicherheit. Im Rest der Hölle mag es schlimm zugehen, aber hier habt ihr doch ein wenig Frieden…“
„In der Hölle gibt es keinen Frieden!“, schnaubte Vater Erik. „Es kommen nur selten Dämonen hier vorbei, um uns das Leben sauer zu machen. Das stimmt. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die wissen sehr genau, dass wir selbst uns ebenso quälen, wie sie es tun würden. Nein, in der Hölle vegetiert ein jeder für sich allein. Nur an wenigen Orten, wie hier in unserem Dorf, ist es ein klein wenig anders – das stimmt. Doch obwohl
Weitere Kostenlose Bücher