Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
ich hier bin, habe ich das Dorf nicht über wenige hundert Meter hinaus verlassen. Ebenso wie die Menschen hier… nur wenige haben die Kraft und den Mut, in der Hölle auf Reisen zu sein. Von Toten Palästen weiß ich nichts…“
Eleanor schluckte. „Sie wirken nicht wie die anderen hier im Dorf“, wandte sie nach einer Weile ein. „Die Dorfbewohner wirken, als ob ihre Sünden sich tief in sie eingegraben hätten.“
Ihr Blick flackerte zu Will hinüber, der noch immer schweigend an der Seite Vater Eriks saß und dessen große, traurige Augen in der Dunkelheit zu ihr hinüber starrten.
Vater Erik lachte. Ein Laut, der seltsam fremd an diesem Ort wirkte.
„Oh, ich bin auch nicht von hier!“, gab er amüsiert zu. „Ich stamme nicht einmal aus ihrer Zeit. Ich wurde erst im Jahre 1799 in York geboren. Ich schlug eine kirchliche Laufbahn ein, aber zu Lebzeiten war ich nicht sonderlich gut darin. Ich war eher dem weltlichen Leben zugewandt. Das hat mir mehr als einmal Probleme eingebracht. Große Probleme“
Vater Erik stutzte, dann verzog er plötzlich das Gesicht.
„Ich bin ein Selbstmörder“, stellte er schlicht fest. „In gewisser Weise habe ich mich dadurch Gottes Prüfung auf der Welt entzogen. Daher kam ich in die Hölle. Im Gegensatz zu jenen aber, die aufgrund ihrer Sünden in die Hölle hinab fielen, kann ich am Tag des Jüngsten Gerichts auf Vergebung hoffen. Dazu muss ich hier vollbringen, was mir zu Lebzeiten nicht gelungen ist. Als Priester der Menschen dieses Dorfes habe ich eine allerletzte Chance, mich Gottes würdig zu erweisen. Und weiß Gott, ich gebe hier mein Bestes. Zu Lebzeiten war ich längst kein so guter Geistlicher, wie ich es hier bin. Erst seitdem ich hier bin, gebe ich mir wirklich Mühe mit meinen Mitmenschen.“
„Ich verstehe“, erwiderte Eleanor. „Das erklärt, warum sie so anders sind. Sie haben keine wirkliche Schuld auf sich geladen.“
„Richtig. Um zu Gott zu gelangen reicht es nicht, ohne Sünde zu sein. Man sollte wenigstens einmal im Leben etwa getan haben, um die Welt der Lebenden zumindest ein klein wenig besser zu machen. Nun – zumindest bemühe ich mich hier, die Welt der Toten in diesem Dorf ein klein wenig zu verbessern.“
„Und? Hilft es?“, wandte Eleanor sich an Will.
„Ein wenig…“, lächelte Will scheu. „Es ist gut zu wissen, dass Gott uns nicht vollkommen vergessen hat. Es ist gut, mit Vater Erik am Gottesdienst teilnehmen zu können.“
„Was ist mit den Kindern?“, fragte Eleanor. „Sie kamen mir eher wie sie vor“, sie nickte Vater Erik zu, „als wie ihre Eltern.“
Vater Erik lächelte. „Natürlich. Sie sind zu klein, um schon wirklich gesündigt zu haben. Sie hatten keinen Anteil an der unterlassenen Hilfeleistung ihrer Eltern. In der Nacht, als die Bewohner des Dorfes das Treibgut am Strand plünderten, durften sie der hohen Wellen wegen nicht allzu nah ans Wasser. Sie mussten weiter landeinwärts auf ihre Eltern warten und nahmen ihnen das geborgene Treibgut ab, um es nach Hause zu bringen. So bekamen sie nichts von den sterbenden Matrosen mit. Als dann kurz darauf das ganze Dorf ausgelöscht wurde und seine Bewohner starben, hätten ihre Seelen gehen können. Doch sie sind Kinder…“
Wieder lächelte Vater Erik, doch dieses Mal war sein Lächeln traurig. „Ihre Seelen blieben bei denen ihrer Eltern. So groß war ihre Liebe zu ihnen, dass sie ihnen folgten und nicht ins Licht gingen. Seitdem sind sie das, was ihre Eltern mehr als alles andere daran hindert, zu verzweifeln. Selbst ich kann den Menschen hier nicht so viel Trost geben, wie es ihre Kinder tun. Wann immer in diesen Hügeln Kinderlachen ertönt, können wir zumindest einen Augenblick lang vergessen, wo wie hier sind…“
Eleanor nickte lächelnd. Dann wurde sie schlagartig wieder ernst. „Was erwartet mich außerhalb des Dorfes?“
„Nichts Gutes!“, gab Vater Erik trübsinnig zu. „Wir hier bemühen uns, nach Gottes Geboten zu leben. Hier im äußersten Kreis der Hölle mag es noch andere geben wie uns. Vielleicht sogar sehr viele. Ich weiß es nicht. Aber je näher du dem Zentrum der Hölle kommst, desto schlimmer wird es sein. Nur jene, die dort leben, wissen wie es ist.“
Ein Schauer lief Vater Erik den Rücken hinab und seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Du solltest da nicht hingehen. Bleib bei uns. Hier wärst du sicher…“
„Hierbleiben?“ Eleanor sah sich um. Für ein solches Leben hatte sie die Welt der Lebenden nicht
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