Die Zehnte Gabe: Roman
beiseite, griff nach der Whiskyflasche und schenkte ihm ein großes Glas ein. »Meine Füße bringen mich um. Ich war in jedem verdammten Hotel in Rabat und habe nach der blöden Kuh gefragt, aber sie war nirgend…«
»Hallo Michael.«
Er drehte sich so schnell um, dass die Hälfte der Flüssigkeit in dem Glas, das der Barkeeper ihm gerade gereicht hatte, auf seine Schuhe schwappte.
»Gut gegen Blasen«, sagte ich kindisch, und Anna unterdrückte ein Lachen.
Er starrte mich an, dann Idriss, und dann erschien ein hässlicher, viel sagender Ausdruck in seinem Gesicht. »Du hast nicht
viel Zeit verschwendet, um dich mit den Einheimischen zu verbrüdern, wie?«, fragte er unfreundlich.
Idriss stand auf. Der Turban machte ihn noch größer, als er ohnehin war.
»Setz dich, Michael, und hör auf, so ein Theater zu machen«, sagte Anna streng. Ich konnte mir vorstellen, dass sie diesen Ton einer jüngeren Angestellten gegenüber anschlug, aber dass sie ihn auch bei Michael benutzte, war eine Überraschung. »Dieser Herr ist Idriss, Experte für die Stadt und ihre Geschichte.«
»Idriss el-Kharkouri«, ergänzte Idriss mit tiefer Stimme. » La bes .« Er neigte den Kopf und legte kurz die Hand auf sein Herz.
Michael musterte ihn misstrauisch und drehte ihm dann schroff den Rücken zu. »Wo ist das Buch, Julia? Ich habe eine lange Reise gemacht, um es zurückzubekommen.«
»Julia und ich haben uns geeinigt«, fiel Anna ihm sanft ins Wort. Sie reichte mir das Glas Wein und Idriss das Bier, der es mit einem » Schukran besef « quittierte und den Berberführer mimte.
Michael kniff die Augen zusammen und sah sie an. »Was soll das heißen - ›geeinigt‹?«
»Wo sind Robert Bolithos Briefe, Michael? Ich kann sie nicht finden.«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass ich sie im Zimmer herumliegen lasse, damit irgendwelche arabischen Langfinger sie mitgehen lassen, oder? Sie liegen sicher im Safe des Hotels mit der Anweisung, sie niemand anderem auszuhändigen als mir.«
Das war ein anderer Michael als der, den ich zu kennen glaubte, eine unangenehmere, nervösere Version. Mich in Idriss’ Begleitung zu sehen hatte ihm sicher einen Stich versetzt, und dieser Gedanke verschaffte mir eine erbärmliche kleine Genugtuung.
»Nun, dann geh und hol sie«, sagte Anna, nahm ihm sein Whiskyglas ab und wischte es mit einer Serviette ab, so wie man
die Milchflasche eines kleinen Kindes abwischt. »Na los.« Sie wartete, bis er weg war, und beugte sich dann über den Tisch. »Hier mein Angebot. Ich gebe dir die Briefe, wenn du mir vorübergehend das Buch überlässt. Unser Rückflug ist morgen, aber ich glaube nicht, dass Michael ohne das Buch an Bord des Flugzeugs geht. Darüber hinaus verspreche ich - und Idriss ist mein Zeuge -, dass es dein Eigentum ist, über das du frei verfügen kannst. Wir tauschen Buch und Briefe wieder aus, wenn du zurückkommst, dafür versprichst du mir, mich zum Museum zu begleiten und das Altartuch zu authentifizieren. Abgemacht?« Sie streckte die Hand aus.
Idriss warf mir einen warnenden Blick zu, doch ich reagierte mit einem leichten Kopfschütteln. Nein, das ist okay . Dann ergriff ich ihre Hand. »Abgemacht.«
Ich hatte meinen Wein schon halb ausgetrunken, da fiel mir ein, was ich sie noch hatte fragen wollen. »Robert Bolithos Briefe - wo habt ihr sie eigentlich gefunden?«
»Sie lagen auf Alisons Dachboden, in dem Farmhaus von Kenegie. Irgendwer hatte sie in die Familienbibel gesteckt, wo sie vermutlich auch hingehörten.«
»Was meinst du damit?«
»Nun, Alisons Mutter ist eine Bolitho, nicht wahr? Das müsstest du eigentlich wissen, schließlich ist sie deine Cousine. Ich fand den Namen schon immer komisch. Einmal spielten wir dieses Spiel auf dem College - du weißt schon welches, mach dir deinen Pornostar-Namen, indem du den deines ersten Haustiers mit dem Geburtsnamen deiner Mutter verbindest. Meiner war Silky Pevsner und ihrer Candy Bolitho. Beide nicht übel, fanden wir. Aber Familienbande hin, Familienbande her, sie zieht aus; das Haus ist zu groß für einen allein.«
Ich war aus mehreren Gründen erschüttert. Ich erinnerte mich an die Kälte dort und an die Depression, die mich gepackt hatte. Damals hatte ich gedacht, ich wäre abergläubisch und spürte die Gegenwart von Andrews Geist, aber was, wenn
da noch etwas anderes gewesen war? Ich fröstelte und verdrängte den Gedanken. »Wo wird sie hinziehen, Alison, meine ich?«
»Sie kauft das Cottage in Mousehole. Sie hat sich
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