Die Zehnte Gabe: Roman
Riesen erwartet, mit exotischer Kleidung und blitzenden Krummschwertern, doch das waren nur einfache Waldarbeiter, wie man sie überall auf der Welt finden konnte,
arme Männer, die sich irgendwie durchschlagen und ihre Familien ernähren mussten.
Sechs Karren rumpelten vorbei, begleitet von fünfzehn Männern. Die letzten vier trugen Schwerter und waren aufmerksamer als der Rest.
Marshall und Rob beobachteten, wie sie sich entfernten. Endlich sagte der Mann aus London mit belegter Stimme: »Das werden zwei weitere Piratenschiffe, mit denen sie nächstes Frühjahr die englischen Küsten unsicher machen. Komm, mein Junge, steh auf. Wir wollen etwas Abstand zwischen sie und uns bringen.«
Als die Nacht anbrach, gab es immer noch keinerlei Hinweis auf ein Ende des Waldes. Unter seinem improvisierten Schutzdach aus Blättern und Zweigen träumte Rob von einer grün und blau geschlagenen Cat, einer toten Cat - gestorben an einer Krankheit, Hunger, Erschöpfung oder nach einem verrückten Fluchtversuch. Cat, in einer Lache von Unrat, Cat, enthauptet von einem halb nackten Wilden, der einen bluttriefenden Krummsäbel in der Hand hielt, Cat von zwei Pferden über den Boden geschleift, bis sie nicht wiederzuerkennen war, Cat, an einer Eisenspitze in einer Mauer hängend, blutige Tränen vergießend.
Im Morgengrauen erwachte er müde und stapfte hinter Marshall her durch die nicht enden wollenden, immer gleichen Bäume. Irgendwann am Nachmittag hob der Ältere plötzlich die Hand und deutete nach links. Robs Blick folgte seinem Finger. In einer sonnigen Lichtung lagen zwei Männer und schliefen mit über den Kopf gezogenen Kapuzen. Statt sich davonzustehlen, machte Marshall ihm ein Zeichen mitzukommen. Dann wandte er sich noch einmal zu ihm um, grinste und zog einen Finger über die Kehle.
Entsetzt begriff Rob, was er vorhatte, doch noch ehe er protestieren konnte, hatte sein Gefährte bereits die Waffe in dem
Mann versenkt, sie wieder herausgezogen und dasselbe bei dem zweiten Fremden wiederholt.
»Sie machen gern ein Nickerchen am Nachmittag«, erklärte Marshall. »Faulpelze.«
Rob sank auf die Knie. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand einen Mann tötete, ganz zu schweigen von zweien, kaltblütig und im Schlaf. Die Galle kam ihm hoch, und er musste sich abwenden, um einen heißen Schwall zu erbrechen.
Marshall wischte das Schwert am Umhang des ersten Mannes ab und steckte es zurück in die Scheide. Dann fing er an, ihm die Djellaba über den Kopf zu ziehen, wobei zwei dürre Beine und eine ergraute Behaarung um das Geschlecht sichtbar wurden.
Rob starrte ihn voller Ekel an. »Das war Mord.«
»Du hast wohl nicht genug Mumm in den Knochen, was, mein Junge? Es wird Zeit, dass du dir über bestimmte Dinge klar wirst. Diese beiden hätten nicht gezögert, dasselbe mit dir zu tun, merk dir das. Und jetzt wisch dir den Mund ab und hilf mir. Wir nehmen ihre Kleider und alles, was wir gebrauchen können, klar?« Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete die beiden Leichen. »Du nimmst besser den da, er ist größer. Das ist das Gute an diesen Gewändern: Sie haben so eine Art Einheitsgröße. Bloß seine Schuhe werden dir nicht passen.«
»Ich trage nicht die Kleider eines Toten«, gab Robert störrisch zurück.
»Mach, was du willst. Heute Abend haben wir den Wald hinter uns. Wenn du Glück hast, schaffst du eine Meile, bevor dich eine Horde von Dorfbewohnern zu Tode steinigt. Du hast die Wahl.«
So kam es, dass wenig später zwei mit Djellaba und Turban bekleidete Gestalten aus dem Schutz des Marmora-Walds auftauchten und die eintönige Landschaft vor sich betrachteten. Beide saßen auf einem graubraunen Maultier.
Rob hatte darauf bestanden, seine eigene Kleidung unter der Djellaba anzubehalten. Er kam beinahe um vor Hitze und merkte
bereits, wie ihn Flöhe und Läuse stachen, doch er ertrug diese Unannehmlichkeit mit stoischer Gelassenheit. Er hatte daneben gestanden und nichts unternommen, als zwei Menschen das Leben geraubt wurde; nun kam er sich innerlich ebenso schmutzig vor wie äußerlich.
Er war erstaunt, dass niemand sie beachtete, denn er spürte seine eigene brennende Schuld wie ein Leuchtfeuer, doch abgesehen von einer Horde zerlumpter Kinder, die ihre Maultiere mit Olivenkernen bewarfen, als sie durch einen staubigen Hain ritten, drehte sich kaum jemand nach ihnen um.
»Verdammte kleine Schmutzfinken«, murmelte Marshall vor sich hin. »Diese Leute vermehren sich wie die Karnickel, und
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