Die Zehnte Gabe: Roman
in das Haus verliebt, und wir haben einen Pakt geschlossen: Ich mache ihr einen guten Preis, und dafür gibt sie mir die Briefe.« Sie warf mir ein schiefes Lächeln zu. »Sie ist sogar schon eingezogen, obwohl sie noch nicht offiziell ins Grundbuch eingetragen ist und die Renovierungsarbeiten noch nicht abgeschlossen sind.«
Bevor ich die nächste Frage stellte, kam Michael mit einem Umschlag in der Hand zurück. Er wirkte noch gereizter als vorher. »Es ist wirklich zum Kotzen, diese Leute verstehen kein Wort Englisch.«
»Das liegt daran, dass hier alle Französisch sprechen, Liebling. Also, Julia hat sich einverstanden erklärt, das Buch, das wir brauchen, gegen die Briefe einzutauschen, die du gefunden hast.«
Michael sah mich verblüfft an. »Oh, gut.« Er blieb vor dem Tisch stehen, als hätte man ihn auf dem falschen Fuß erwischt, setzte sich dann hin und nahm mehrere Fotokopien aus dem Umschlag und ein Bündel stockfleckiger Kanzleipapiere, die mit einer sauberen Handschrift bedeckt waren. Selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, dass es die von Robert Bolitho war. »Das Buch«, sagte er, trennte die Originale von den Kopien und streckte mir Letztere entgegen. »Gib es mir.«
Anna schüttelte den Kopf. Dann nahm sie ihm die Unterlagen ab, steckte das Kanzleipapier in den Umschlag, faltete die Kopien zusammen und gab sie Michael zurück. Zum Schluss reichte sie mir den Umschlag.
»Was, zum Teufel, tust du da?«, polterte Michael los.
»Fairer Handel«, sagte Anna zuckersüß. »Das Buch, bitte, Julia.«
Feierlich griff ich in meine Handtasche und nahm es heraus. Der Einband fühlte sich weich und glatt an. Liebevoll fuhr ich
mit dem Daumen über die Rippen des Buchrückens und die leichte Verfärbung auf der Rückseite, wo die Cousine des Korsarenkapitäns versucht hatte, es anzuzünden. »Leb wohl, Catherine«, flüsterte ich.
» Au revoir «, korrigierte Anna mich sanft.
»Wir sehen uns in London«, sagte ich lächelnd. »In ein paar Tagen bin ich zurück und rufe dich an.«
Annas Finger schlossen sich um die meinen. »Tu das, meine Liebe.« Dann zog sie die Hand zurück und presste das Buch wie einen Panzer an ihre Brust.
Ich stand auf und wandte mich zum Gehen. Idriss streckte Anna die Hand entgegen, die lächelnd zu ihm aufsah. »Es war reizend, Sie kennen zu lernen, Idriss. Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen.«
» Enchanté, madame. À la prochaine, insha’allah .«
Er drehte sich zu Michael um. »Ich hoffe, dass Sie Ihren kurzen Aufenthalt im Hotel meiner Cousine genossen haben und dass der Besuch in Marokko Ihren Horizont erweitert hat«, sagte er in seinem besten Englisch. »Wir sind stolz auf die Gastfreundschaft und Höflichkeit unserer Kultur. Und natürlich haben wir das Recht, jedem, der unsere Ehre oder die eines Mitglieds unserer Familie besudelt, die Zunge abschneiden zu lassen.« Die Andeutung seines Lächelns spiegelte sich nicht in den Augen wider.
Es mag am Licht gelegen haben, aber ich hatte den Eindruck, dass Michael ein ganz klein wenig blass um die Nase wurde.
Draußen im hellen Sonnenschein kniff ich die Augen zusammen und sah zu Idriss auf. »Ist das wirklich wahr? Dass man einem die Zunge abschneiden darf, meine ich? Ich weiß, dass in Saudi-Arabien, wo die Scharia Gesetz ist, Dieben die Hand abgehackt wird, dass man Leute, die Alkohol trinken, auspeitscht, Ehebrecherinnen zu Tode steinigt und ähnlich grausames Zeug, aber Marokko hätte ich für liberaler gehalten.«
Idriss zog mich in den Schatten einer Gasse, beugte den Kopf zu mir herab und küsste mich, kurz, aber leidenschaftlich.
»Und dafür riskiere ich einen Monat Gefängnis«, sagte er todernst.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, ob das ein Witz war oder nicht.
ACHTUNDZWANZIG
ROBERT
1625
D er Wald war seltsam. In Cornwall kannte er jeden Baum, jede Pflanze, die im Unterholz und zwischen den Hecken blühte, ihre Namen, ihre Blüten, ihre Früchte und ihre Jahreszeit. Doch diese Bäume hatten eine Rinde, die rötlich und rau war, mit langen vertikalen Rissen und Schlitzen, und ihre Äste waren glatt, rund und kamen sich nicht gegenseitig ins Gehege. Das Blätterdach war dicht und dunkel, sodass das Unterholz nur spärlich wuchs. Zumindest bedeutete es, dass es weniger Stellen gab, wo die Banditen ihnen auflauern konnten.
Sie gingen hintereinander, wobei Rob vorsichtig den Fußstapfen seines Gefährten folgte. Einen halben Tag marschierten sie so, ohne dass etwas passierte. Sie aßen
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