Die Zehnte Gabe: Roman
Mann war älter, seine Zeit als Seefahrer längst vorbei. Cat erkannte den alten Thomas Ellys. Seine Glieder waren von Arthritis geschwollen und der Rücken vom Alter gebeugt. Die silberne Thrupenny-Münze für die Kollekte hatte er noch in der Tasche zusammen mit einem Kamm aus vergilbtem Bein. Der raïs inspizierte seine schwielige raue Hand, die bestätigte, dass er ein Arbeiter war und nicht Vater eines reichen
Sohnes. Er wandte sich an seinen Schreiber, um sich kurz mit ihm zu besprechen, dann winkte er einem seiner Männer, machte eine knappe Geste und deutete auf den alten Fischer. Ohne ein Wort drängte der Seemann Thom Ellys auf eine Seite des Schiffs und stieß ihn kurzerhand über das Dollbord. Nach einer kurzen Pause hörte man ihn unten aufplatschen, dann war es wieder still.
»Ihr Barbaren!«, rief der Priester und starrte hinaus auf die wogende, leere See. Sie waren bereits weit vom Land entfernt. Selbst ein junger gesunder Mann hätte keine Chance gehabt, die Küste von hier aus zu erreichen. »Möge der Herr Jesus Christus sich seiner Seele erbarmen.«
Der raïs zuckte mit den Schultern. »Wir sind knapp an Lebensmitteln. Wir können es uns nicht leisten, etwas an einen alten Mann zu verschwenden, den keiner freikauft und der auf dem Sklavenmarkt nichts einbringt. Wenn dein Jesus seine Seele liebt, wird ein Wunder geschehen.« Dem wütenden Blick des Priesters hielt er gelassen stand. »Schon die Römer haben uns unzivilisierte Barbaren genannt, aber sie waren dumm, wie alle, die mein Volk so bezeichnen. Meine Leute sind Imazighen, freie Männer. Stolze Berber. Zuhause in den Bergen spreche ich die Sprache meines Volkes, mit Kaufleuten in der Kasbah Spanisch, mit anderen Piraten Arabisch und die lingua franca der Häfen; auch beherrsche ich ein wenig Englisch und Holländisch. Ich habe jede Seite im Koran gelesen und aus Neugier sogar Teile eurer Bibel. In meiner Sammlung habe ich Bücher von Ibn Battuta, Gedichte von Mawlana Rumi, Ibn Khalduns Muqqadimah und Al-Hasan ibn Muhammed al-Wazzans Cosmographia Dell’ Africa ; alle habe ich gelesen. Und jetzt sag mir, wer ist der Barbar?«
»Unschuldige Menschen aus ihren Häusern zu entführen - Frauen und Kinder -, um sie dann als Sklaven zu verkaufen, ist ein barbarischer Akt.«
Der Pirat runzelte die Stirn. »Dann sind alle großen Nationen
der Welt Barbaren - Spanier und Franzosen, Portugiesen, Sizilianer und Venezianer. Ich habe ein ganzes Jahr am Ruder einer sizilianischen Galeere gesessen und viele Narben auf dem Rücken davongetragen. Die Engländer sind nicht besser: Eure großen Helden Drake und Hawkins sind ebenfalls Barbaren, weit schlimmer als die Piraten aus Slâ, das die Unwissenden Sallee nennen. Sie machen Beute nur aus Profit und behandeln ihre Gefangenen mit Verachtung.«
»Und das tut ihr nicht?«
»Ich bin al-ghuzat , Krieger des Propheten. Meine Männer und ich führen den djihad - den heiligen Krieg - bis an die Küsten unserer Feinde, viele Ungläubige nehmen wir gefangen und verkaufen sie auf unseren Märkten. Mit dem Gewinn helfen wir unserem Volk zum Ruhme Gottes. Es gefällt dem Allmächtigen, dass der Reichtum der Ungläubigen an Allah zurückfließt.«
»Dann bist du nicht nur ein Barbar, sondern auch ein Ketzer!« Die Augen des Priesters funkelten vor Zorn. Sein Bart flatterte im Wind. Er sieht aus wie einer der Propheten aus dem Alten Testament, dachte Cat, wie Moses, der den Hagel auf Ägypten herabfleht.
Al-Andalusi sprang so plötzlich auf, dass die Pfeife umkippte und sich Rauch und Wasser über das Deck ergossen. »Wage nicht, mich so zu nennen! Die Spanier nannten meinen Vater Ketzer. Die Inquisition hat ihm die Knochen gebrochen auf ihrer abscheulichen Folterbank, nicht aber seinen Geist.« Er wandte sich um und rief drei seiner Leute etwas zu. Sie eilten davon, waren aber im Nu wieder zurück. Einer von ihnen trug einen Eisenstab mit abgeflachtem Ende, die beiden anderen eine kleine Kohlepfanne. Letztere wurde neben dem raïs auf das Deck gestellt, dann hielt einer der Männer das Ende des Eisens in die Kohlen, bis es erst rot, dann weiß glühte. Walter Truran starrte wie gebannt auf die Kohlen, unfähig, die Augen abzuwenden. Dann begann er zu beten.
Al-Andalusi rief einen Befehl, und die Männer zogen dem Priester die Stiefel aus.
»So groß ist dein Glaube in deinen gekreuzigten Propheten, dass wir dich jetzt für immer mit seinem Mal ehren wollen.«
Damit gab er seinen Männern einen Wink. Einer von
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