Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
Vom Netzwerk:
manchmal den Stock aus der Hand und kopierte diese Zeichnungen. Als er älter wurde, sammelte er farbiges Gestein und Tonerde und zerdrückte sie zu Pigmenten, die er sich sehr zur Belustigung der Erwachsenen auf den Körper schmierte. Er war schon als Kind ständig in Bewegung und immer mit irgendetwas beschäftigt.
    Nun taten ihm vor Anstrengung die Lungen weh. Ihm blieb nicht viel Zeit. Mit jedem Schritt verlor Nago mehr Blut.
    Seine Mutter hatte Tal viele heilende Umschläge gezeigt. Es gab Umschläge für Koliken, für Durchfall, für Entzündungen, für Geschwüre, für Kopf-und Zahnschmerzen. Und es gab welche für Wunden, für alte, die nässten und stanken wie der offene Bruch seines Vaters, und welche für frischblutende Wunden, wie die von Nago.
    Der Grundbestandteil, um frisches Blut zu stillen, war eine hellgrüne Schlingpflanze, die sich um die Stämme von jungen Bäumen rankte. Er wusste, auf welcher Waldlichtung er diese Pflanze finden konnte.
    Des Weiteren brauchte er eine spezielle Sorte von Beeren, die dafür bekannt waren, dass sie eine Wunde sauber hielten. Nicht weit von der Lichtung gab es eine Stelle, an der sie an Büschen wuchsen.
    Schließlich brauchte er noch eine Menge lange, gelbe Grashalme, mit denen er den Umschlag zusammenhalten und die Wunde abdichten konnte. Diese wuchsen so gut wie überall und waren leicht zu besorgen.
     
    Weil das Wetter warm war, hatte der Wisentklan ein Lager unter freiem Himmel aufgeschlagen. In zwei Tagesreisen in Richtung Abendsonne gab es einen Felsüberhang, unter dem sie in der kalten Jahreszeit Schutz suchten, jetzt aber genügten ihnen kleine Unterstände, die sie sich aus Rentierhäuten und dünnen Ästen gebaut hatten.
    Nago wurde in den Schatten eines dieser Unterstände gelegt. Vor Schmerzen hatte er die Zähne zusammengebissen, und aus dem Fellverband um seine Schulter tropfte Blut.
    Tal rannte zu ihm. Er hatte seinen eigenen Fellanorak ausgezogen und verwendete ihn als Tragetuch für die Pflanzen und Beeren, die er für den Umschlag gesammelt hatte.
    Alle zweiundzwanzig Mitglieder des Klans, Männer, Frauen und Kinder, hatten sich um den Verletzten versammelt und machten Platz, als Tals Vater herangehumpelt kam. Er flehte seinen einen Sohn an, den anderen zu retten.
    Tal begann zu arbeiten. Jemand hatte ihm die alte Mischschüssel aus Sandstein gebracht, in der er jetzt mit einer Klinge aus Feuerstein die Schlingpflanzen in handliche Stücke zerschnitt. Eine seiner Tanten hatte unterdessen die Beeren in breite glänzende Blätter gepackt und zerdrückte sie mit den Händen, sodass der Saft in die Schüssel tropfte. Tal fügte die Pflanzenstücke hinzu und zerrieb sie mit glatten Steinen aus dem Fluss zusammen mit dem Saft zu einem zähen Brei. Zuletzt zerschnitt er ein Büschel von dem gelben Gras in kurze Stücke und mischte sie in den roten Brei in der Schüssel.
    Der Inhalt des Umschlags war damit fertig.
    Tal sagte seinem Bruder, er müsse jetzt so stark sein wie der Wisent, den sie gerade getötet hatten, und schmierte ihm den Brei in die offene Wunde, bis das klaffende Loch damit vollkommen aufgefüllt war. Nago war tapfer, aber die Schmerzen waren so stark, dass er bewusstlos wurde und die Augen schloss.
     
    Tal hielt die ganze Nacht lang Wache bei seinem kranken Bruder und während der nächsten und der übernächsten ebenfalls. Tagsüber wich er nur von seiner Seite, um Zutaten für neue Umschläge zu sammeln. Er unternahm diese kurzen Ausflüge allein. Eine seiner Cousinen, ein Mädchen namens Uboas, und ihr kleiner Bruder Gos wären ihm gerne gefolgt, aber er verbot es ihnen.
    Uboas war ein aufgewecktes, hübsches Mädchen, und Tal wusste genau, dass sie eines Tages seine Gefährtin werden würde, aber jetzt wollte er noch alleine sein. Als sie sich weigerte, zurück zum Lager zu gehen, rannte er ihr und ihrem Bruder einfach davon. In sicherer Entfernung blickte er sich noch einmal um und beobachtete, wie sie das Kind bei der Hand nahm und umkehrte.
     
    Als Tal auf der Lichtung seine Schlingpflanzen abschnitt, sah er sie. Oder besser gesagt, zuerst hörte er sie. Sie redeten in einer seltsamen Sprache, die er nicht verstehen konnte.
    Dann erkannte er am Rand der Lichtung, wo die Bäume weit genug auseinanderstanden, erst einen, dann zwei von ihnen. Er hatte schon von ihnen gehört, seine Leute nannten sie das Schattenvolk, das Volk der Nacht oder einfach nur »die Anderen«, aber gesehen hatte er noch nie einen von ihnen. Und auch

Weitere Kostenlose Bücher