Die zehnte Kammer
übertönt. Es lag jetzt allein an ihm, seinen Bruder zu retten.
Tal rannte nach vorn und schleuderte seinen Speer mit aller Kraft gegen die Flanke des Wisents. Er traf ihn genau und drang tief ein, doch Tal war das nicht genug. Er rannte auf das Tier zu, packte den Schaft des Speers und trieb ihn weiter in den riesigen Körper hinein. Der Wisent blutete aus dem Maul, dann knickten seine Vorderbeine ein, und er brach seitlich zusammen.
Nago lag keuchend auf dem Boden, seine Schulter war nur noch ein blutiger Brei aus gesplitterten Knochen und zerfetzten Muskeln.
Tal kniete sich über ihn hin und ließ ein lautes Geheul hören. Die anderen Männer liefen zusammen, deuteten auf die Wunde und flüsterten aufgeregt.
Tal hatte schon einige Wunden von Hornstößen gesehen und wusste, dass sie sich von selbst nicht mehr schlossen und nur sehr schlecht heilten. Wenn Nago ein Fell getragen hätte, wäre die Wunde vielleicht nicht so tief gewesen, aber weil der Tag warm war, hatte er mit nacktem Oberkörper gejagt. Nago war der Jagdführer, nun aber musste Tal die Führung übernehmen. Um die Blutung zu verlangsamen, nahm er Nagos Fellanorak und wickelte ihn so eng er konnte um die Wunde. Tal befahl zwei seiner Cousins, seinen Bruder zurück zum Lager zu tragen.
Dann stellte er sich über den Wisent und dankte ihm dafür, dass er ihren Klan versorgte. Bisher war er nicht dazu berechtigt, den Gesang zur Tötung eines Wisents anzustimmen, doch er kannte die Worte und sang sie mit Inbrunst. Die restlichen Männer signalisierten durch Nicken ihr Einverständnis, bevor sie alle zusammen über das tote Tier herfielen und mit der rituellen Schlachtung begannen.
Tal löste sich von der Gruppe und rannte so schnell er konnte durch das hohe Steppengras. Sein Vater hatte ihn die Jagd und den Gesang gelehrt, aber nun war es an der Zeit, das Wissen anzuwenden, das ihm seine Mutter geschenkt hatte.
Seine Mutter war seit zwei Jahren tot. Sie hatte die Welt nach einer schwierigen, schmerzhaften Geburt verlassen. Sie stammte nicht aus dem Wisentklan. Ihre Sippe nannte sich das Volk vom Bärenberg. Als junge Frau war sie von einer Sturzflut überrascht und von ihrem Stamm getrennt worden. Sie wusste nicht, was mit ihrer Familie geschehen war, vielleicht hatte sie überlebt, vielleicht waren alle in der Flut zugrunde gegangen. Tals Mutter hatte es nie erfahren. Sein Vater, damals selbst noch ein junger Mann, war gerade auf Elchjagd gewesen und hatte sie hungrig und halb erfroren im Wald gefunden. Sie gefiel ihm, und obwohl es innerhalb des Klans Eifersucht und Missgunst hervorrief, machte er sie zu seiner Gefährtin.
Ihr Klan war erfahren in der Heilkunde, weshalb sie lindernde Umschläge machen konnte und wusste, welche Blätter, Wurzeln und Rinde man kauen musste, wenn man eine bestimmte Krankheit hatte. Als Tal jung war, hatte sie ihm bittere Blätter gegen Zahnschmerzen gegeben und schmackhafte Rinde, die ihm die Hitze aus dem Körper getrieben hatte.
Sobald der Junge laufen konnte, war er hinter seiner Mutter hergetappt, hatte ihr beim Sammeln von Kräutern im Wald und Grasland geholfen und die Ausbeute in aus Rentierfell genähten Beuteln zurück zum Lager des Klans getragen.
Sein Gedächtnis war immer außerordentlich gewesen. Den Ruf eines Vogels oder die Melodie eines Klangesangs konnte er sich merken, wenn er sie nur einmal gehört hatte, und wenn er an einer Blüte roch, eine Tierspur oder ein Blatt sah, konnte er sich auch lange Zeit später genauestens daran erinnern.
Aber Tal hatte nicht nur einen wachen Geist, er war auch von frühester Jugend an handwerklich äußerst geschickt. So lernte er rasch, wie man aus einem Stück Feuerstein dünne Klingen schlug oder wie man aus Holz und Knochen die unterschiedlichsten Gegenstände schnitzte. Bald war er auch ein Experte im Herstellen von Speeren und Speerschleudern, und seine Speere flogen besser als die eines jeden anderen. Obwohl Nago viele Jahre lang eifersüchtig auf seinen begabten Bruder gewesen war, hatte Tal ihn stets respektiert und war davon ausgegangen, dass Nago eines Tages der Anführer des Klans werden würde.
Tals Mutter hatte ihm auch beigebracht, wie man malt. Das Volk des Bärenberges besaß eine lange Tradition im Verzieren von Felskammern und Höhlen durch die mit Holzkohle und Ocker gezeichneten Konturen von großen Tieren. Sie kratzte die Umrisse von Bären, Pferden und Wisenten in getrockneten Schlamm oder harte Erde, und der junge Tal nahm ihr
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