Die zehnte Kammer
diese erste Begegnung war so flüchtig, dass sie nur ein paar Herzschläge lang dauerte.
Der eine von ihnen war alt, wie Tals eigener Vater, der andere jünger, so wie er. Aber beide waren kleiner und stämmiger als seine Leute, und ihre Bärte waren rötlicher und länger. Der Jüngere hatte einen schweren Körperbau, und der Ältere sah so aus, als ob er seinen Bart nie mit Feuerstein trimmte, wie es beim Wisentklan Sitte war. Sie trugen Speere, aber die waren schwer und plump. Vielleicht für einen direkten Stich geeignet, aber auf keinen Fall fürs Werfen. Ihre Kleidung bestand aus grobem Pelz, der möglicherweise von Bären stammte und bei diesen Temperaturen sicher viel zu warm war.
Nachdem die beiden und Tal sich einen Augenblick lang gemustert hatten, verschwanden sie wieder im Dunkel des Waldes.
Nagos letzte Nacht war sehr unruhig. Zwar hatten Tals Umschläge geholfen – die Wunde war sauber geblieben und hatte nicht angefangen zu stinken –, aber Nago hatte so viel Blut verloren, dass kein heilender Umschlag und kein Gesang seinen Tod verhindern konnten.
In seinen letzten Stunden schwoll sein Unterleib an, und er konnte kein Wasser mehr lassen. Er wollte weder essen noch trinken, und als die Abenddämmerung hereinbrach, wurde sein Atem immer langsamer, bis er schließlich ganz aufhörte.
Gerade als die Frauen ihr Wehgeschrei anstimmten, begann ein warmer Regen zu fallen, was allen im Klan als ein Zeichen galt, dass ihre Ahnen den Sohn des Anführers in ihrem Reich willkommen hießen. Die Feuer ihrer Lager brannten hell am Nachthimmel, aber sie waren zu weit entfernt, als dass der Wisentklan ihre Lieder hätte hören können.
Tals Vater legte ihm die Hände auf die Schultern und verkündete so laut, dass alle es hören konnten, dass Tal ihr nächster Anführer werden sollte. Der alte Mann erklärte müde, dass seine Zeit bald kommen würde. Nach den Trauerfeiern für Nago musste Tal hinauf zum höchsten Punkt der Erde steigen, an dem er dem Himmel nah genug war, um die Lieder der Vorfahren hören zu können.
Der Regen fiel weiter, und bald hatte er die Sandsteinschüssel, in der sich immer noch Reste der Umschlagpaste befanden, bis zum Rand mit Wasser gefüllt.
Tal hatte keine Angst vor dem Klettern. Er war trittsicher, und auch wenn der Fels nass vom Regen war, kam er gut voran. Ein alter Mann hatte ihm vor Jahren einen Trick verraten: Er musste sich seine Schuhe aus Rentierfell mit Lederriemen fest an die Füße binden, damit sie auf dem glatten Gestein nicht rutschten. Tal blieben noch etliche Stunden Tageslicht, um hinauf zum Gipfel des Berges zu gelangen, sodass er sich nicht sonderlich beeilte. An seinem Ledergurt trug er zwei Beutel – einen mit Streifen getrockneten Rentierfleischs und einen mit Zunder und Feuerstein. Wenn er oben auf dem Gipfel angelangt war, würde er ein Feuer entfachen, den alten Gesang anstimmen und den Antworten von den himmlischen Lagerfeuern hoch oben am Firmament lauschen. Vielleicht würde er sogar ein Lied vom Feuer seiner Mutter hören.
Tal hatte absichtlich keinen Lederschlauch mit Wasser mitgeschleppt, denn er wusste, dass es auf dem Berg einen Wasserfall gab, an dem er seinen Durst löschen konnte.
Auf halbem Weg hinauf zum Gipfel hielt er auf einem sicheren Felssaum an und schaute hinab auf den Fluss, der aus dieser großen Höhe nicht mehr sonderlich mächtig wirkte. Dahinter erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine unendlich ausgedehnte Grassteppe, durch die nicht weit vom Fluss entfernt zwei große, zottelige Mammuts trotteten. Tal lächelte. Selbst die größten aller Tiere sahen von hier oben so klein aus, als könne man sie mit den Fingern greifen und in den Mund stecken.
Am Wasserfall angekommen, trank er und wusch sich den Schweiß vom Gesicht.
Dann blickte er die Felswand entlang nach oben und suchte sich einen günstigen Pfad zum Hinaufklettern. Plötzlich fiel ihm etwas auf, das er noch nie zuvor gesehen hatte: Es war eine dunkle Öffnung im Fels, hinter der sich vielleicht eine Höhle befand.
So rasch er konnte kletterte er zu der Öffnung empor, und als er sie erreicht hatte, erkannte er, dass sie tatsächlich der Eingang zu einer Höhle war. Das war ein Zeichen! Eine Höhle, die nur auf ihn gewartet hatte. Langsam und vorsichtig näherte er sich der Öffnung. Es gab Kreaturen, vor denen man sich in Acht nehmen musste. Bären. Das Schattenvolk.
Schritt für Schritt schlich sich Tal in die kühle Dunkelheit bis dorthin, wo
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