Die zehnte Kammer
Manchmal flog er auch zwischen ihnen durch, sah ihnen in die Augen und passte sich ihrer Geschwindigkeit an. Tal hatte vorher schon öfter Pferde gesehen. Er hatte sich an sie herangeschlichen und sie mit seinem Speer getötet, weil sein Klan ihr Fleisch und ihr Fell brauchte. So aber, wie er sie jetzt erlebte, hatte er sie früher nie gesehen.
Ihre großen braunen Augen waren so klar wie die Pfützen auf dunklen Steinen nach einem Gewitterregen. In diesen Augen gab es keine Furcht, nur eine unbändige Lebenskraft. Er erkannte sein eigenes Spiegelbild in diesen Augen. Die Arme und Schultern eines Menschen und den Kopf eines Habichts. Aber sein Blick ging tiefer, sah bis ins Herz des Tieres. Tal spürte die gleiche grenzenlose Freiheit und wilde Liebe zum Leben, den gleichen unbändigen Überlebenswillen.
Als Tal im Flug an seinem Körper hinabsah, war sein Glied breit und steif und bereit zur Paarung. Noch nie hatte er sich so lebendig gefühlt.
Er warf den Kopf in den Nacken, ließ die Pferde unter sich zurück und stieg weiter in den Himmel hinauf. Von oben erkannten seine scharfen Habichtsaugen etwas am Horizont. Es war ein dunkler Punkt, der sich bewegte.
Tal flog eine Kurve und glitt auf dem Wind über den Fluss hinweg hinüber zu der weiten Ebene dahinter, auf der eine Herde von Wisenten in raschem Tempo dahinzog.
Es war eine riesige Herde, die größte, die er je gesehen hatte. Wie ein einziges, großes Wesen galoppierte sie dahin und brachte dabei die Erde unter ihren Hufen zum Beben. Würden sie ihm gestatten, sich ihnen anzuschließen?
Tal senkte den Kopf und ging in den Sinkflug. Er raste knapp über dem Boden dahin und hatte die Herde rasch eingeholt. Seine Ohren dröhnten vom donnernden Geräusch unzähliger Hufe, und er sah nichts mehr außer muskulösen Hinterteilen und wild auf und ab tanzenden Schwänzen. Die Herde öffnete ihm eine Schneise und ließ ihn in ihre Mitte. Mit ein paar Schlägen seiner Arme glitt er direkt über den beiden Leitbullen dahin – zwei gigantische Tiere mit Köpfen so groß wie Felsblöcke und Hörnern so lang wie die Arme eines ausgewachsenen Mannes.
Hatten die Pferdeaugen vor Freiheit und Temperament geglänzt, leuchtete in den Augen der Wisente tiefe Weisheit auf. Tal sprach mit ihnen, nicht mit Worten, sondern in einer sehr viel mächtigeren Sprache. Er war eins mit ihnen, und sie waren eins mit ihm und erzählten ihm so vom Leben seiner Ahnen. Er wiederum erzählte ihnen, welche Liebe und Ehrfurcht er für sie empfand und dass er Tal vom Wisentklan sei.
Indem sie ihn in ihre Herde aufgenommen hatten, erwiesen sie Tal eine große Ehre, und nun baten sie ihn, ihnen ebenfalls eine Ehre zu erweisen.
Nachdem Tal Uboas all das berichtet hatte, schlief er erschöpft ein. Als er nach kurzer Zeit wieder erwachte, war seine Laune so finster wie die Nacht. Er brüllte Uboas an, sie solle ihn allein lassen, schleuderte in blinder Wut das Fell von sich, mit dem sie ihn zugedeckt hatte, und schrie, die Nacht möge sich verziehen und die Sonne endlich aufgehen. Sein Gebrüll weckte den Klan, und als einer seiner Cousins herüberkam, um Tal zu beruhigen, ging er ihm an die Gurgel. Er hätte ihn wohl erwürgt, wenn ihn nicht mehrere Männer gepackt und fortgezogen hätten.
Obwohl Uboas große Angst vor dem wutschäumenden Tal hatte, kehrte sie zurück an seine Seite und massierte ihm die Schultern, während ihn die Männer noch immer an Armen und Beinen festhielten.
Erst als Tals Wut verraucht und er wieder er selbst war, ließen ihn die Männer vorsichtig los. Leise tuschelnd gingen sie zurück zu ihren Schlafstellen, während Uboas bei dem wieder ruhig gewordenen Tal blieb und sich für den Rest der Nacht eng an ihn schmiegte.
Tals Geist war in seinem ganzen Leben noch nie so wach und ruhelos gewesen wie nach diesem ersten Flug mit der roten Flüssigkeit. Er nahm seine Verpflichtungen dem Klan gegenüber so ernst und ging ihnen mit solch unermüdlichem Eifer nach, dass allen bald klar wurde: Hier wuchs ein bedeutendes neues Klanoberhaupt heran. Auch wenn sein Wutanfall nach dem ersten Flug viele erschreckt hatte, verziehen sie ihm seine Wildheit als Ausdruck der Kraft, die ein Anführer nun einmal haben musste. Schließlich lauerten überall Gefahren, vor denen sie nur ein starker Krieger beschützen konnte.
Und Tal war stark und unermüdlich. An einem Tag leitete er die Jagd. Und es war sein Speer, der einen kapitalen Rentierbock erlegte. Am nächsten Tag
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