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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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streifte er allein durch Wald und Steppe und sammelte heilende Pflanzen oder fertigte eine Klinge aus Feuerstein. Er brachte Uboas bei, wie man in der Steinschüssel seiner Mutter aus Blättern, Körnern, zerdrückten Beeren und Wasser auf den glühenden Kohlen der Feuerstelle neues Flugwasser kochte.
    Immer wieder fühlte Tal, wie es ihn zu seiner Höhle zog, jenem magischen Ort, den er gefunden hatte, als er oben auf dem Berg mit den Ahnen seines Vaters in Verbindung getreten war. Auf diese Ausflüge begleitete ihn Uboas. Sie sicherte ihn beim Klettern ab und passte auf, wenn er am Höhleneingang sein Flugwasser trank und in eine andere Welt hinüberglitt. Wenn sie so nebeneinander am Feuer saßen und hinab auf das in der Abenddämmerung versinkende Tal blickten, warnte er sie davor, ihm zu nahe zu kommen, wenn ihn nach seinem Flug die Wut überkam.
    Und dann begann seine neue Reise.
    Uboas blieb bei ihm, bis er zurückkam. Bei seinem Wutanfall danach floh sie vor ihm tief ins Dunkel der Höhle und hörte ihm zu, wie er seine Ahnen anschrie und von ihnen verlangte, dass sie sich ihm endlich offenbarten.
    Am Morgen fütterte sie ihn mit über dem Feuer geröstetem Rentiermagen, und er erzählte ihr von seinem Flug und den Wesen, die er, halb Mensch und halb Vogel, besucht hatte. Wenn er genug gegessen hatte, stand er auf und ging in der Höhle herum, bis sich seine Beine wieder stark und stabil anfühlten.
    Die Strahlen der Morgensonne leuchteten ein Stück weit in die Höhle und tauchten ihre Wände in ein warmes, helles Licht. Tal erlebte seine Reise in Gedanken noch einmal. Er war wieder bei den Wisenten gewesen. Und bei den Pferden. Er hatte auch mit Hirschen gesprochen und mit einem Bären. Während er auf den dunklen Fels der Höhlenwand starrte, sah er auf ihm wieder die Bilder, die er beim Flug vor seinen Habichtsaugen gesehen hatte. Und auf einmal wusste er, wie er den Wisenten die von ihnen geforderte Ehre erweisen konnte.
    Er eilte hinaus zum Feuer und griff nach einem halbverkohlten Ast. Unter den wachsamen Augen von Uboas ging er damit an die sonnenbeschienene Höhlenwand und begann etwa in Augenhöhe eine lange, gebogene Linie zu zeichnen. Weil die Holzkohle nur schlecht am Fels haften blieb, stellte das Ergebnis seiner Bemühungen Tal ebenso wenig zufrieden wie die Zeichnungen, die er als Kind im Schoß seiner Mutter in den Sand gekritzelt hatte. Laut schimpfend goss er den Rest des Flugwassers aus der Steinschüssel und drückte ein großes Stück Rentiertalg hinein. Dann nahm er einen weiteren angekohlten Ast und rührte damit in dem Talg herum, bis er ganz schwarz war. Mit dieser Mischung zeichnete er die Linie an der Höhlenwand noch einmal nach, und diesmal blieb die Farbe tiefschwarz an der spröden Felswand haften. Bis weit in den Vormittag hinein arbeitete er voller Begeisterung an seinem Bild, indem er fettige Farbe mit einem Stock und den bloßen Händen an die Wand brachte. Als er fertig war, holte er Uboas ins Innere der Höhle, damit sie sich sein Werk ansah.
    Der Anblick verschlug ihr den Atem. Es war ein perfekt gemaltes Pferd, das ganz genauso aussah wie ein lebendes Tier. Mit offenem Maul, fliegenden Hufen und nach vorne gerichteten Ohren schien es über die Höhlenwand zu galoppieren. Auch die Mähne hatte Tal so seidig gemalt, dass Uboas am liebsten mit der Hand darübergestrichen hätte, und das Auge des Tiers wirkte wach und weise.
    Uboas fing an zu weinen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas Schönes gesehen.
    Als Tal ihre Tränen bemerkte, wollte er wissen, was mit ihr los sei. Sie antwortete, dass sie zutiefst berührt von der Schönheit der Malerei sei, aber auch große Angst habe.
    Angst wovor?
    Vor der neuen Kraft, die Tal besaß. Er war jetzt ein ganz anderer Mann als der, den sie bisher gekannt hatte. Das Flugwasser hatte ihn zu einem Schamanen gemacht, der mit der Welt der Geister und Vorfahren in Verbindung stand. Der alte Tal war vielleicht für immer verschwunden, und vor dem neuen hatte sie Angst. Sie bekam einen heftigen Weinkrampf. Endlich gestand sie dann, was sie am meisten bedrückte. Würde er sie jetzt immer noch als Gefährtin haben wollen? Liebte er sie noch?
    Tal antwortete mit Ja.
     
    Als Tals Vater schließlich starb, bestand er nur noch aus Haut und Knochen. Sein Leichnam wurde zu einem heiligen Ort am Ufer des Flusses gebracht, den er oft besucht hatte, um der Stimme des Wassers zu lauschen. Dort legten sie ihn ins Gras der Böschung und gingen.

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