Die zehnte Kammer
Aus der Entfernung warf Tal noch einmal einen Blick zurück auf seinen Vater. Es sah so aus, als würde der alte Mann sich ein wenig ausruhen. Wäre Tal am nächsten Tag zurückgekommen, hätte er nur seine Knochen gefunden und nach drei Tagen überhaupt nichts mehr.
Von nun an war Tal der Anführer des Klans. Es geschah ohne eine Zeremonie oder feierliche Worte. So war es Sitte bei ihnen. Hätten die Mitglieder des Klans irgendwelche Zweifel an Tals Eignung gehabt, wäre vielleicht darüber geredet worden. Aber die Älteren, die sich noch an Tals Großvater erinnerten, fanden, dass Tal einen guten Anführer abgeben würde. Der Meinung war auch der verschrumpelte, uralte Mann, der sogar noch seinen Urgroßvater gekannt hatte. Tal mochte noch sehr jung sein, aber er war ein Heiler und ein Schamane, der mittels seines Flugtranks in der Lage war, mit der Natur und dem Reich der Ahnen in, Verbindung zu treten. Auch wenn sie seinen Zorn unmittelbar nach diesen Flügen fürchten gelernt hatten, sprachen sie mit derselben Ehrfurcht darüber wie über die geheimnisvolle Zauberhöhle oben in der Felswand, die außer Tal und seiner neuen Gefährtin, Uboas, noch niemand gesehen hatte.
Eines Tages verkündete Tal, dass er nun den Klan hinauf zu der Höhle führen würde, damit jeder für sich selbst sehen konnte, was seine Visionen ihm gezeigt hatten. Obwohl das Wetter gut war, war es ein mühsamer Aufstieg, den die Alten, die sich auf kräftige Stöcke stützten, kaum schafften. Auch Uboas, die bald ein Kind bekommen würde, tat sich mit ihrem dicken Bauch schwer. Als sie endlich alle oben bei der Höhle waren, stand die Sonne auf ihrem höchsten Punkt und funkelte hell auf dem Wasser des Flusses unter ihnen. Tal machte auf dem Felsvorsprung vor der Höhle ein Feuer, an dem er eine dick mit Bärentalg beschmierte Fackel entzündete, die lange und hell brennen würde.
Dann betrat er als Erster die Höhle, und der Klan folgte ihm.
Das Licht der Fackel mischte sich mit dem von draußen hereinscheinenden Tageslicht und beleuchtete die Wände der Höhle mit einem flackernden Schein. Als der Klan die Bilder sah, war er überwältigt. Eine junge Frau schrie laut, weil sie Angst hatte, von den Pferden und den Wisenten niedergetrampelt zu werden. Und ein kleiner Junge deutete auf einen riesigen schwarzen Stier an der Höhlendecke und fragte seine Mutter immer wieder, ob der auch nicht herunterfiele.
Zusammen mit Uboas hatte Tal nach und nach in beharrlicher Arbeit die erste Kammer der Höhle ausgemalt. Wann immer ihm Zeit blieb, kletterte er die Felswand hinauf, bereitete sich einen Topf mit Flugwasser und verlor sich in seiner Traumwelt und den Visionen, die sie für ihn bereithielt. Wenn er zurückkam mit prallerigiertem Glied, die Lenden schmerzend vor Männlichkeit, zog er seine Gefährtin auf ein mitten in der Höhle liegendes Wisentfell, das zuvor seinem Vater gehört hatte. Dort stieß er sie so lange, bis sie beide vollkommen erschöpft waren und er in einen kurzen, tiefen Schlaf fiel. Daraus erwacht, wütete er eine Weile wie ein wildes Tier, bis sein Körper vor Anstrengung müde wurde.
Danach war Tal wieder er selbst, und nachdem er sich gereinigt hatte, begann er zu malen.
Dass Tal bereits als Kind mit seiner Mutter gemalt hatte, kam ihm jetzt zugute, wenn er aus bestimmten Erden und zermahlenen Steinen neue, möglichst gut an der Höhlenwand haftende Farben zu mischen versuchte. Es genügte ihm nicht, die Konturen der Tiere so zu zeichnen wie die Höhlenmaler vergangener Zeiten. Für seine Bilder sollten die Farben sehr viel leuchtender sein, und dazu musste er sie im Dunkel der Höhle gut erkennen können. Also baute er sich aus Sandstein ein Behältnis, in das er mit Wacholderzweigen vermischtes Bärenfett strich. Wenn er diese Mischung anzündete, gab sie ein langanhaltendes, gelbliches Licht, in dessen Schein er an seinen Malereien arbeiten konnte.
Tal ließ sich von der Beschaffenheit der Höhlenwand dazu inspirieren, was er an welche Stelle malen sollte. Wölbte sich der Fels ein Stück weit heraus, wurde er zum Hinterteil eines Pferdes, zeigte sich anderswo ein kleines, dunkles Loch in der Wand, machte Tal es zur Pupille eines Wisentauges. Uboas hielt, während er arbeitete, seine selbstgebaute Lampe in ihren Händen und wanderte damit in der Höhle hin und her. Tal liebte es, wenn das flackernde Licht über die Oberfläche des Felsens glitt und seine gemalten Kreaturen zu rhythmisch bewegtem Leben
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