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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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erweckte.
    Nachdem er die Konturen der Tiere mit in Fett gebundener Holzkohle oder einem Klumpen Mangan an die Wand gezeichnet hatte, füllte er sie mit Farbe. Zuerst schmierte er die selbst angerührten Pigmente mit bloßen Händen an den rauen Fels, aber das Ergebnis konnte ihn nie ganz zufriedenstellen. Er wollte die wahren Farben der Tiere darstellen, wollte der kalten, harten Wand pulsierendes Leben einhauchen. Das Leben, das er auf seinen Flügen mit dem roten Trank kennengelernt hatte.
    Als er das erste Mal seine neue Technik anwendete, versuchte Uboas ihn daran zu hindern, weil sie glaubte, er wäre verrückt geworden. In einer Steinschüssel hatte er Ton und Ocker mit Wasser und Speichel zu einem dünnen Schlick verrührt, den er sich schließlich in den Mund steckte und so lange kaute und von einer Wange in die andere bewegte, bis er die richtige Konsistenz erreicht hatte. Dann trat er vor die Felswand, spitzte die Lippen und spuckte die Farbbrühe wie einen Nebel winziger Farbtröpfchen aus kurzer Entfernung an die Wand. Stellen, wo keine Farbe hin sollte, deckte er mit seinen Händen ab, und wenn er das Fell eines Tieres mit Punkten versehen wollte, verwendete er Schablonen aus Lederlappen, in deren Mitte er ein kreisrundes Loch geschnitten hatte. Es war eine mühevolle Arbeit, die viel Zeit brauchte, aber er war glücklich dabei, auch wenn Uboas ihn immer wieder wegen seiner roten Zunge oder seiner schwarzen Lippen tadelte.
     
    Als Tal die Mitglieder seines Klans von einem Bild zum anderen führte, von einer Wand zur nächsten, kamen sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Tals Tiere besaßen dieselbe Vitalität und Farbigkeit wie die Tiere draußen in der freien Natur. Die Pferde waren schwarz oder getüpfelt gemalt, die Wisente in einem ins Rötliche gehenden Dunkelbraun, und der gewaltige Stier war schwarz wie die Nacht. Tal hielt die Lampe in seiner linken Hand und presste die rechte vor die Brust, als er verkündete, dass der Wisentklan nun am Beginn eines langen Weges stünde. Die Höhle führte noch sehr viel tiefer in den Berg hinein, wo es dunkler und kühler war als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt. Sie war, so sagte Tal, ein Geschenk der Ahnen und der Geisterwelt an ihn, damit er mit Hilfe seines Klans einen heiligen Ort aus ihr machte. Bis an sein Lebensende würde er weiter diese Tiere malen, und er würde dieses Wissen an die jungen Männer des Klans weitergeben. Von jetzt an würde ihr Initiationsritual in dieser Höhle stattfinden, wo sie Flugwasser trinken und lernen würden, sich mit den Tieren dieser Welt frei zu bewegen und deren innersten Geheimnisse zu erfahren. Danach würde Tal sie in die Kunst der Malerei einweihen. So sollten sie ihre Visionen an den Wänden dieser Höhle für immer festhalten und sie zum heiligsten Ort auf dieser Welt machen, über den der Wisentklan für immer wachen werde.
    Die Stammesältesten stimmten dem zu, und alle im Klan nahmen Tals Idee begeistert auf. Schon Tals Vater war ein hochgeachteter Mann gewesen, aber was sein Sohn hier geschaffen hatte, machte ihn zum größten Anführer, den der Wisentklan jemals gehabt hatte.
    Tal und Uboas waren an diesem Tag die Letzten, die die Höhle verließen. Gerade, als er die Lampe mit einer Handvoll Erde löschen wollte, griff Uboas in den Beutel an ihrem aus Rosshaar geflochtenen Gürtel und überreichte ihm die kleine Statue eines Wisents. Sie hatte sie aus dem Horn des Tieres geschnitzt, das Tals Bruder zum Verhängnis geworden war.
    Tal stellte die Figur auf seine Handfläche und hielt sie an die Lampe, damit er sie besser sehen konnte. Die andere Hand legte er Uboas auf den Kopf und streichelte zärtlich ihr Haar, bis sie lachend sagte, sie müsse nach draußen und aufpassen, dass keiner der alten Leute in die Schlucht stürze.
    Draußen auf dem Felssims wartete der Klan, dass ihr Anführer zu ihm stieß. Geblendet vom grellen Sonnenlicht, brauchte er eine Weile, bis er wieder richtig sehen konnte.
    Auf einmal deutete der kleine Gos über den Fluss hinweg in die weite Ebene, wo sich mehrere dunkle Formen, klein wie Ameisen, durch das Steppengras bewegten. Es waren keine Tiere, es waren Menschen eines fremden Stammes, die sich gerade an eine Gruppe von Rentieren anpirschten und offenbar nicht bemerkten, dass sie von oben beobachtet wurden.
    Es dauerte nicht lange, dann hob eine der kleinen Gestalten in der Steppe seinen Speer und deutete damit hinauf zur Höhle. Kurz darauf begann der ganze Stamm, der

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