Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
er ihr gern überließ, während er selbst unterwegs war, um Vorbereitungen für die Verschiffung der deutschen Siedler nach Nelson zu treffen. Der Zeitpunkt der Abreise rückte näher, und Janes Stimmung verschlechterte sich dabei mit jedem Tag. Wobei sie an diesem Morgen einen Tiefpunkt erreichte. Bei der Anprobe ihres Festkleides für den abendlichen Ball der Familie hatte der Stoff schon wieder über Brust und Hüfte gespannt – und das, obwohl ihr das Kleid erst zwei Wochen zuvor angemessen worden war. Jane hatte Verärgerung geheuchelt und die Schneiderin beschuldigt, falsch Maß genommen zu haben. In den Augen ihrer Mutter und ihrer Schwestern hatte sie natürlich lesen können, dass sie davon kein Wort glaubten. Es war nicht zu leugnen, Jane war auf dem besten Weg dahin, eine stattliche Frau zu werden, wie ihre Mutter und die Schneiderin das vorsichtig ausdrückten. Die Schwestern redeten eher von einer fetten Kuh. Aber Jane konnte sich einfach nicht bezähmen: Wenn sie verstimmt und gelangweilt war, bekam sie Hunger. Und da sie eigentlich ständig schlechte Laune hatte, seit ihr Vater ihre Abreise nach Neuseeland beschlossen hatte, war sie die beste Kundin in Hamburgs Chocolaterien.
Jane wollte nicht nach Neuseeland! Sie hasste Neuseeland! Wobei sich das nicht unbedingt auf die Landschaft bezog oder gar auf das Wetter – der Winter in Hamburg war fast genauso deprimierend wie die Aussicht auf die Reise nach Nelson. In Neuseeland war die Luft sehr viel klarer, und zumindest an der Küste gab es kaum jemals anhaltende Regen- oder Schneefälle. Selbst im Winter brach immer mal wieder die Sonne durch, und zurzeit war sowieso Sommer. Auch die Gegend war schön. Wer gebirgiges, freies Land mochte, endlose grasbedeckte Ebenen und bewaldete Hügel, die nur darauf warteten, dass jemand ein Blockhaus darauf aufbaute und Felder anlegte, der mochte dort sogar glücklich werden. Jane dachte an all die eifrigen Leserinnen der illustrierten Heftchen, in denen die Abenteuer von mutigen Pionierinnen in den Prärien Amerikas geschildert wurden. Viele Mädchen der Hamburger Gesellschaft schwärmten geradezu von einem Leben in der Wildnis.
Jane ging das allerdings nicht so. Im Gegenteil, sie genoss die Annehmlichkeiten des Hamburger Stadthauses, das Herr De Chapeaurouge für ihren Vater und seine Familie angemietet hatte. Das fließende Wasser – ein Rohrnetz brachte Elbwasser direkt in die Haushalte –, die modernen Öllampen, die Wärme der Kamine und Kachelöfen … Und Jane hatte auch keine Lust auf Ackerbau und Viehzucht. Sie war ein kluges Mädchen, ihre Lehrer waren stets begeistert von ihr gewesen. Vor allem rechnete sie gern, am liebsten hätte sie die Buchführung eines großen Handelshauses übernommen.
Sie hatte diese Vorliebe durch Zufall entdeckt. Sarah Beit hatte einen der Buchhalter der Chapeaurouges als Hauslehrer für ihre Töchter gewonnen. Die Mädchen sollten lernen, ein Haushaltsbuch korrekt zu führen. Aber Jane war schon nach einer Unterrichtsstunde darüber hinaus, sie wollte mehr, und der gutwillige junge Mann führte sie bereitwillig auch in die kompliziertere Materie der kaufmännischen Buchführung ein. Das galt nicht als unschicklich für Mädchen, es gab viele Kaufmannsfrauen, die ihren Männern die Journale führten. Jane Beit würde das nur zu gern auch tun. Und eigentlich sprach überhaupt nichts dagegen, sie noch in Hamburg zu verheiraten – vor der Abreise ihrer Eltern und Geschwister nach Neuseeland, wohin ihr Vater die Auswanderer, die er für die Neuseelandkompanie angeworben hatte, begleitete. Herr De Chapeaurouge hatte ihrem Vater sogar angeboten, ein paar der angesehenen Kaufmannsfamilien darauf anzusprechen. Gerade nachdem er gesehen hatte, wie umsichtig Jane ihrem Vater im Kontor zur Hand ging.
Beit hatte jedoch abgelehnt. Vorgeblich fand er Jane noch zu jung, um sie zu vermählen, aber das war Unsinn. Jane war fast zwanzig, eigentlich wurde es dringend Zeit! Der wahre Grund war also sicher ein anderer, und Jane befürchtete, dass sie sich ihre Lage selbst zuzuschreiben hatte. Sie hätte sich im Kontor nicht derart unentbehrlich machen sollen! Es war falsch gewesen, ihrem Vater all die organisatorische Arbeit abzunehmen, die die Auswanderung der Leute aus Mecklenburg über die reine Anwerbung hinaus verlangte. Jane langweilte sich jedoch in der Gesellschaft ihrer Schwestern und deren Freundinnen, sie fand keinen Gefallen an den Vergnügungen, denen sich die Mädchen ihrer
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