Die Zeit der Feuerblüten: Roman (German Edition)
sich für die Umarmung. Bevor sie noch wirklich wusste, wie ihr geschah, zog er sie an sich und küsste sie, seine Zunge suchte den Weg in ihren Mund. Ida wand sich in seinem Griff, wollte sich losreißen – dann gab sie jedoch nach. Ihre Lippen öffneten sich, und einen Herzschlag lang schien es sogar, als wollte sie den Kuss erwidern. Das tat sie zwar nicht – lief allerdings auch nicht fort, als er sie losließ. Verwirrt schaute sie zu ihm auf.
»Tut mir leid …«, flüsterte Karl. »Aber … aber sag nie wieder, dass das nicht zählt!«
Mit diesen Worten wandte er sich ab. Vielleicht hatte er jetzt alles kaputt gemacht, doch immerhin hatte er sie einmal geküsst!
Ida blieb wie erstarrt zurück. Einen Augenblick schloss sie die Augen, erlaubte sich, dem Kuss nachzuschmecken. Sie sollte beschämt sein und wütend, sie sollte sich beschmutzt fühlen, vielleicht sogar den Übergriff melden – aber sie fühlte sich glücklich. Und das war schlimmer als alles andere. Nie wieder durfte sie Karl so nahe kommen, am besten unterließ sie auch die Heimlichkeiten mit ihm. Ihr Vater hatte Recht, sie musste nicht Englisch lernen. Hier verstand schließlich auch keiner der Auswanderer die Sprache der Brasilianer, und trotzdem lebten sie gut.
Ida öffnete die Augen wieder. Sie beschloss, sich künftig zurückzuhalten und nicht an die drei Worte zu denken, die sie eben auf Portugiesisch gehört hatte. Você é linda … Du bist schön … Worte zum Träumen, aber träumen durfte sie nicht! Vielleicht war das überhaupt die Gefahr, vielleicht gab es zu viele Worte zum Träumen in diesen fremden Sprachen …
Ida versuchte, nicht mehr an Karl zu denken. Vielleicht sollte sie Ottfried doch noch auf dem Schiff heiraten. Und damit Karl – und Gott – beweisen, dass sie es ernst meinte. Sie würde sich mit dem Gedanken anfreunden müssen. Aber bei aller Reue wusste sie jetzt schon, dass sie sich nicht dazu überwinden konnte. Ida Lange würde ihr Schicksal demütig annehmen – forcieren würde sie es dennoch nicht.
Die Auswanderer aus Raben Steinfeld waren also vollständig, als die Sankt Pauli nach vierundzwanzig Tagen Aufenthalt in Bahia den zweiten Teil ihrer weiten Reise anging. Zwei andere Passagiere hatten sich allerdings in Salvador abgesetzt. Hannes und Jost, die in Hamburg angeworbenen Seeleute, waren verschwunden.
»Undankbares Pack!«, wütete Beit.
Aber die Männer zu suchen und wieder an Bord zu zwingen war natürlich undenkbar. Womöglich hatten sie schon auf irgendeinem anderen Schiff angeheuert, um es noch einmal mit der mehr oder weniger christlichen Seefahrt zu versuchen. Karl wunderte das nicht. Die Frömmigkeit der beiden Schlakse war ihm von Anfang an aufgesetzt erschienen, die Passage auf der Sankt Pauli mochten sie wohl nur angenommen haben, um ein paar Monate bei Vollverpflegung faulenzen zu können. Auf dem Schiff hatten sie jedenfalls nie einen Finger gekrümmt, wenn es irgendetwas zu tun gab. Und nun erschien ihnen das bunte, laute Brasilien wohl attraktiver als eine frömmlerische Landgemeinde am Ende der Welt. Wirklich verdenken konnte Karl es den zwei jungen Männern nicht, aber er wäre auch nicht auf die Idee gekommen, sich ihnen anzuschließen. Das, so dachte er bitter lächelnd, hätte schließlich geheißen, vor seinem Schicksal davonzulaufen.
Denn von einem war er nach wie vor überzeugt: Sein Schicksal war mit Idas verbunden!
KAPITEL 8
Die Fahrt nach Neuseeland nahm weitere zweieinhalb Monate in Anspruch, es wurde Juni, als endlich wieder Land in Sicht kam. Immerhin verlief die Reise ruhig, trotz wechselnden Wetters. Nachdem es zeitweise fast unerträglich heiß gewesen war und ein paar Tage lang Flaute herrschte, wurde es schließlich erneut kühler.
»In Australien und Neuseeland ist jetzt Winter«, erklärte Hein dem im kalten Wind auf Deck schlotternden Karl, der sich schon an seinen Dialekt gewöhnt hatte, und lieh ihm einen wollenen Pullover. »Und bald sind wir da. In den nächsten Tagen müsste Van-Diemens-Land in Sicht kommen.«
»Das ist diese Gefängnisinsel, ja?«, fragte Karl und erinnerte sich an die Bücher über Neuseeland und Australien.
Nach wie vor besaß er das Buch, das Idas Vater gekauft hatte, während Ida seines aus Hamburg in ihrem Besitz hatte. Karl konnte nur hoffen, dass Jakob Lange das nicht irgendwann herausfand. Aber ein Rücktausch war nicht möglich, seit ihrem Aufenthalt in Bahia hatte Ida das Versteck im Rettungsboot nie wieder aufgesucht.
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