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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
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waren ... und noch immer kamen welche dazu. Viele der Köpfe waren gerade mal so groß, daß sie von Kleinkindern stammen mußten. Der Schein des Feuers gab es deutlicher als zuvor wieder: die dunklen Augen der Totenschädel sahen – sie sahen alles, was um sie herum geschah. Die Toten blickten auf die Lebenden. Der Stamm der Spitzgesichter war um ein Vielfaches gewachsen. Die Seelen ihrer Toten wohnten nicht ausschließlich in den Lebenden weiter, nein, ein Teil ihrer Seelen verblieb in ihren Köpfen. Es war der dunkle Teil ihrer Seelen, dunkel wie die schwärzeste Nacht und voller Geheimnisse. Grauen erfasste Maramir, durchströmte sie als ob plötzlich kaltes Blut in ihren Adern flösse. Der harmlose Ort hatte sich in eine gespenstische Stätte verwandelt, wie sie sich Maramir kaum unheimlicher hätte vorstellen können.
    Der Zorn ihrer Ahnen wäre unermeßlich. Niemand durfte es wagen, Schädel aus dem Tal der Ahnen zu rauben, die Seelen von Verstorbenen dem Reich der Toten zu entreißen! Die Ruhe der Toten zu stören, war ein schlimmer Frevel und verlangte den Tod des Eindringlings, denn nur auf diese Weise konnten die erzürnten Seelen der Ahnen wieder besänftigt werden.
    Von den Alten kannte Maramir eine solche Geschichte aus vergangener Zeit, in der ein mutiger Mann ihres Stammes ins Tal der Ahnen hinabgestiegen war, um einen Schädel zu stehlen. Die großen Herden waren damals fortgeblieben, und furchtbare Unwetter marterten das Land. Der Stammesälteste erhoffte sich vom Haupt des Toten Rat. Er befragte den gestohlenen Schädel aus dem Tal der Ahnen, was zu tun sei. - Und der Schädel sprach zu ihm, nachdem man ihn lange genug demütigst darum gebeten und beschenkt hatte. Er verriet dem Ältesten, daß große Opfer nötig seien, um die Mächte gnädig zu stimmen. Die mächtigen Himmelswesen und das Große Himmelsfeuer verlangten von den Kindern des Kleinen Himmelsfeuers, Jagd auf die eigene Art zu machen ...
    So tötete man die Jäger mit den scharfen Zähnen, die großen Gefährlichen ebenso wie die kleinen Unterlegenen, um den Hunger zu stillen; solange bis die zornigen Mächte besänftigt waren. Man überfiel fremde Stämme, tötete Wölfe und tötete des Fleisches wegen sogar innerhalb des eigenen Stammes. - Aber diejenigen, welche diese schreckliche Zeit überlebt hatten, waren stärker als zuvor und kannten keine Furcht mehr. So hatten es die Alten erzählt. Und jener mutige Mann, der das Haupt eines Toten aus dem Tal der Ahnen geraubt hatte, mußte für immer mit dem Schädel dorthin zurückkehren. Von den ehrfürchtigen Blicken des Stammes begleitet, sprang er in den ehrenvollen Tod; von dem steilsten Abgrund, in den Händen das gestohlene Haupt, wie ein Falke im Sturzflug, hinab in die Schlucht des reißenden Wassers, das durch das Tal der Ahnen fließt. - So streng urteilten die Mächte der Anderswelten in dem Land, aus dem Maramir kam.
    Doch im Land der Spitzgesichter schien alles anders zu sein. Dieses Land war hell und weit, seine Natur zweigeteilt wie die Seelen dieser Menschen. Nun sah Maramir zum ersten Mal die düstere Seite, und diese geistige Kraft erschien ihr gewaltig. Es waren die Gegensätze, die sie so sehr faszinierten, daß sie sogar an ihrer eigenen Natur zu zweifeln begann. Deutlich spürte sie nun die Unterlegenheit der Wölfe gegenüber den Bären.
     
    Leise stimmte man einen monotonen Gesang an, während Tochter des Bären den blanken, wuchtigen Schädel eines Bären aus der Höhle hervorbrachte. - Schließlich thronten fünf große Bärenschädel auf dem Felsgestein über der Höhle im Schein des mittlerweile lichterloh brennenden Holzstapels. Das Feuer tauchte den Platz in ein orangefarbenes, flackerndes Licht. Die heilige alte Frau der Spitzgesichter schlug mit kräftiger Stimme einen Sprechgesang an. Über den Höhlenfelsen leuchtete der volle Mond inmitten angestrahlter weißer Wolkenschwaden. Sie rief den Mond an und nannte ihn den Mächtigen Bären, sang Worte der Dankbarkeit und Ehrerbietung. Schließlich holte sie eine Klinge unter ihrem Gewand hervor und schnitt sich damit in den Unterarm. Ihr Blut ließ sie auf einen Knäuel trockenen Mooses tropfen, den sie anschließend ebenso ins Feuer warf wie eine handvoll verschiedener Nahrungsmittel.
    Gebannt verfolgte Maramir das Ritual, als die düsteren Gedanken plötzlich wichen. Auf unerklärliche Weise verlor sich sogar ihre Furcht, die sie bei jedem Kontakt mit den Mächten der Anderswelten empfunden hatte.

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