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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Menez
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Instinktiv sah sie auf und erblickte auf dem kleinen Hügel, durch den die Höhle verlief, einen geheimnisvollen Umriß, eine Gestalt, von der eine ungeheure Kraft ausging. Jener Schatten besaß zwei kräftige Beine, einen breiten Rumpf, mehrere Arme und zwei Köpfe, die auf die Anwesenden herabsahen. Helle Aufregung breitete sich aus. Jeder sah jetzt diese unheimliche Gestalt, und die Kinder klammerten sich ängstlich an die Erwachsenen. Ein mächtiger Schrei ließ die milde Nachtluft erzittern. Maramirs Herz begann zu rasen. Bärenpranke war zurück! Unvermittelt setzte er einige Schritte vor und warf mit einem kräftigen Ruck seines Oberkörpers die schwere Last von seinen Schultern direkt vor den Eingang der Höhle. Mit einem gewagten Sprung setzte er nur knapp daneben auf. Ehrfürchtige Stille beherrschte nun den Platz. Drohend schritt Bärenpranke an einigen erstarrten Gesichtern vorbei und warf allen einen finsteren Blick zu. Dann setzte er jählings mit schnellen Schritten zurück, packte den Löwenkadaver an der kurzen Mähne und zog ihn mit einer Hand ans Feuer. Im Licht des Feuerscheins sah Maramir, daß seine Arme und sein Gesicht mit Blut beschmiert waren, und sie entdeckte eine klaffende Wunde an Bärenprankes Schulter. Mit grollender Stimme rühmte er nun seine Tat und schilderte tanzend den Verlauf eines wilden Kampfes, in dem er den Löwen mit einer Lanze und einem Messer getötet hatte. Mit Ausrufen des Staunens erkannte der Stamm die Größe seiner Tat an. Bestärkt durch einige von Begeisterung aufgepeitschte Stimmen trat Bärenpranke nun vor. Er ging auf Schwarzlocke zu, fixierte ihn mit beißendem Blick und kam ihm dabei so nahe, daß niemand sich mehr zwischen sie hätte stellen können. Aber Schwarzlocke vermochte nicht standzuhalten. Man sah deutlich die Furcht in seinen Augen, als er den Blick senkte – und sich Bärenpranke damit unterwarf.
    Als Tochter des Bären das sah, überzog ein triumphierendes, listiges Grinsen ihr faltiges, sonst so starres Gesicht. Es war auch ihr Kampf gewesen. Ein Kampf, den sie auf eine Weise zu führen verstanden hatte, als wäre sie beinahe unsichtbar gewesen; eine Gestalt im Nebel, die Schwächen und Fehler ihrer Gegner genauestens kannte. Sie konnte sehr zufrieden sein, denn ihr Sohn hatte einen Löwen besiegt, dessen starke Seele im Feuer geopfert werden konnte. Das Fleisch des Löwen würde den Stamm stärken und das Fell sollte Tötete die Hyäne mit einer Hand wärmen und ihr Gemüt sanft stimmen. Denn sobald Bärenpranke seinem Bruder Scharfe Schneide die Ration getrockneten Fleisches anbieten würde, so wie Tochter des Bären es ihm geraten hatte, durfte Scharfe Schneide nicht zögern, sich wieder mit Bärenpranke zu verbünden und sich ihm anzuschließen. Die Familien ihrer Söhne wären wieder vereint. Andernfalls würde Scharfe Schneide den Mächtigen Bären selbst zutiefst beleidigen. Und das, wußte Tochter des Bären, würde er nicht wagen.
    Man pries Bärenpranke, dessen ruhmreiche Tat den Stamm und die Mächte vereinigt hatte. Der Klang hohler Baumstämme, rhythmisch mit langen Knochen geschlagen, leitete den Tanz ein. Überschwänglich huldigten Männer und Frauen den Mächten, deren Gunst dem Stamm Stärke verlieh. Eine große geistige Kraft erfasste die Tanzenden, die sie in aufbrausenden, ungestümen Bewegungen deutlich zum Ausdruck brachten. Viele ließen sich mitreißen. Auch Maramir wankte gelöst im wogenden Rhythmus der Trommeln, während ihr Geist, befreit von den Fesseln trüber Gedanken, danach strebte, für kurze Zeit in die Anderswelten einzugehen.
    „Ja, Kleine Schwester! Tanze! Tanze für die Ahnen!“ drang eine Stimme an ihr Ohr. „Zeig mir den Wolf, der in dir steckt!“
    Kars Stimme zitterte erregt. Ihre Augen leuchteten, als sie den Rotwolf aufschlitzte, um den Boden vor ihren Füßen mit seinem Blut zu tränken. Von einem plötzlichen Freudenschauer erfasst, lief Maramir zu Leinocka, ergriff ihre Hand und nahm sie ans Feuer, um gemeinsam mit Kar das Opfer den Flammen zu übergeben. Es galt die Mächte zu preisen mit Gesang und ausgelassenem Tanz. - Und Leinocka tanzte. Wild fuchtelte sie mit den Armen, während ihr zarter Körper immer wieder von krampfartigen Zuckungen geschüttelt wurde. Ihre starren Augen glänzten. Tränen rannen über ihre Wangen. Der Schmerz ihrer Seele fand in diesem Tanz seinen Ausdruck, und Maramir spürte einen Stich in der Brust, als sie Leinocka so sah und ihr klar wurde, wie verzweifelt

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